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Soziale Intelligenz

Getty Images/ Unsplash
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Warum Zukunft nur gemeinsam geht

Kippt nach den Landtagswahlen im Osten die Stimmung? ZEIT-Redakteur Ulrich Schnabel über Zeiten großer Umbrüche und die Kunst der Zuversicht. Und warum es wichtig ist, sich nicht als Einzelwesen zu begreifen, sondern als Teil einer größeren Bewegung.

Nach den Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen herrscht vielerorts Schockstimmung: Die AfD in Thüringen bei fast 33 Prozent! Erstmals gewinnt eine rechtsextreme Partei in Deutschland eine Mehrheit. War’s das mit der Demokratie?

Gemach. Es gibt auch die andere Seite: Die Mehrheit der Ostdeutschen hat eben nicht die Rechtspopulisten gewählt – fast 70 Prozent haben sich in Thüringen dagegen entschieden. Und selbst jene, die bei der AfD ihr Kreuz machten, taten das nicht unbedingt aus Überzeugung für deren Programm, sondern häufig aus Protest gegen die anderen Parteien.

Das soll die politische Lage im Osten Deutschlands nicht verharmlosen. Der Rechtsruck ist erschreckend. Aber gerade angesichts solcher Ereignisse ist es wichtig, die Perspektive zu weiten: Wie lässt sich dieses Ergebnis in größerem Kontext verstehen? Welche anderen Trends sind wichtig und was sollte man in den Blick nehmen, um den Glauben an die Zukunft nicht zu verlieren? Woraus lässt sich Energie und Hoffnung gewinnen?

Zur größeren Perspektive gehört beispielsweise die Einsicht, dass rechtspopulistische Parteien derzeit in vielen europäischen Ländern Zulauf haben. Dieser Rechtsruck hat also nichts mit der deutschen Tagespolitik oder dem Agieren der Ampel-Regierung zu tun, wie vielfach behauptet. Vielmehr ist er auf tieferliegende Ursachen zurückzuführen, auf einen historischen Wandel, den wir derzeit erleben.

Wir erleben große Umbrüche

Wie die tektonischen Platten im Erdinnern verschieben sich allmählich die Koordinaten unserer Welt. Erstens stellt der Aufstieg von Ländern wie China und Indien die Dominanz der USA in Frage. Die jahrhundertelange Vorherrschaft der westlichen Industrieländer neigt sich dem Ende zu – was Gewaltpolitiker wie Putin ermutigt, plötzlich wieder Krieg zu wagen.

Zweitens verschärfen Klimawandel und Umweltkrisen die politischen Spannungen und führen zu verstärkter Migration. Drittens steht die fossilgetriebene Wirtschaft unter Druck, der materialistische Lebensstil des Westens gerät an seine Grenze; und schließlich revolutionieren technische Innovationen wie Künstliche Intelligenz und Digitalisierung unsere Art zu arbeiten, zu kommunizieren und zu denken.

All das führt bei vielen Menschen zu massiver Verunsicherung und Angst. Dabei hassen Menschen kaum etwas mehr als das Gefühl, die Dinge nicht unter Kontrolle zu haben. Davon profitieren radikale Parteien wie die AfD (oder auch Trumps MAGA-Bewegung), die vermeintlich einfache Lösungen anbieten und so tun, als könne man den Wandel ignorieren und zurück in eine gute alte Zeit (“Make America Great Again”).

Zugleich schüren sie gezielt die Angst vor dem Kontrollverlust – indem sie von “Masseneinwanderung” oder “Bevölkerungsaustausch” phantasieren – was ihnen immer mehr Verunsicherte in die Arme treibt. Dabei können auch Trump oder die AfD weder den Klimwandel, noch Chinas Aufstieg oder die Künstiche Intelligenz aufhalten.

Besser ist es, sich der grundlegenden Transformation bewusst zu werden, ähnlich wie Erdbebenforscher, die um die tektonischen Spannungen in der Tiefe wissen. Dann wird man nicht immer wieder von jedem einzelnen Beben neu überrascht und geschockt – wie zum Beispiel der aktuellen Ankündigung von Volkswagen, Werke in Deutschland zu schließen. Solche Entwicklungen sind die nahezu logische Folge der Konkurrenz aus China und dem Auslaufen der althergebrachten Fossil-Wirtschaft.

Realistische Zuversicht üben

Doch wie bewältigt man solche Zeiten des Wandels, ohne selbst in Verunsicherung und Panik zu verfallen? Was, wenn man weder den schlichten Botschaften der Populisten glaubt noch jenen Fortschritts-Optimisten, die so tun, als könne mit verbesserter Technik – ein paar Windräder hier, ein paar Elektroautos da – letztlich alles beim Alten bleiben?

Was, wenn man ahnt, dass die notwendige Transformation ein viel tiefer gehendes Umdenken erfordert, um den Planeten lebenswert zu erhalten und eine nachhaltige Ökonomie zu entwickeln? Diese Frage ist deshalb nicht leicht zu beantworten, weil niemand den genauen Weg in diese enkeltaugliche Zukunft kennt.

Klar ist nur, dass die Widerstände in Unternehmen, Parteien und der Bevölkerung enorm sind; die Angst vor dem Verlust des Gewohnten ist groß. Wie schafft man es in solch unübersichtlichen Zeiten, sich nicht von der allgemeinen Verunsicherung anstecken zu lassen, sondern handlungsfähig zu bleiben?

Da braucht es eine Art von Zukunftsüberzeugung, die mehr ist als der plumpe Optimismus des “Wird-schon-werden”. Man muss sich auf Widrigkeiten und Rückschläge einstellen, auf Augenblicke scheinbarer Aussichtslosigkeit (falls zum Beispiel die AfD irgendwann doch in die Regierung rückt).

Vor allem muss man die Kunst des langen Atems kultivieren – ähnlich wie etwa die Baumeister der mittelalterlichen Kathedralen. Sie nahmen ihre gigantischen Projekte in Angriff, obwohl sie wussten, dass der Bau Jahrhunderte dauern würde und sie die Fertigstellung nie erleben würden.

Von ihnen kann man eine Art von dauerhafte Zuversicht lernen, die nicht auf schnelle Erfolge zielt, aber von der Überzeugung getragen ist, dass das eigene Handeln sinnvoll ist – und von der Hoffnung, dass kommende Generationen das Werk fortsetzen. Diese Zuversicht hat auch Nelson Mandela beseelt, der für seinen Kampf gegen die Apartheid 27 lange Jahre im Gefängnis saß, ohne zu wissen, ob er je wieder frei kommen würde.

Die soziale Energie stärken

Was hat Mandela die Kraft zum Durchhalten gegeben, als der Erfolg in weiter Ferne schien? Zwei Dinge waren es seinen Memoiren zufolge: der Kontakt zu seinen Mitgefangenen und die gemeinsame Überzeugung, für eine wichtige Sache zu kämpfen.

“Wir spürten die Hand der großen Vergangenheit, die uns zu dem machte, wer wir waren, und die Kraft der großen Sache, die uns alle verband”, schreibt Mandela an einer Stelle. Indem er sich als Teil einer größeren Bewegung sah, die weit über sein individuelles Schicksal hinausging, wuchsen ihm Kräfte zu, die er als isolierter Einzelner kaum hätte aufbringen können.

Solche Beispiele zeigen, wie wichtig es gerade in schwierigen Zeiten ist, sich nicht nur als Einzelwesen zu begreifen, sondern als Teil eines größeren Ganzen. Denn wir Menschen sind im Grunde Beziehungswesen. Unser Denken und Fühlen wird auch von den Menschen in unserem jeweiligen Umfeld mitbestimmt, von dem sozialen Netzwerk, in dem wir uns bewegen.

Daher ist für uns kaum etwas so wichtig wie der Austausch und die Resonanz mit anderen sozialen Wesen. Das gilt besonders in Krisenzeiten: Das Teilen schwieriger Erfahrungen macht es leichter, diese zu verarbeiten; zudem kommt man gemeinsam mit Anderen auf Ideen und Problemlösungen, die einem selbst nie einfallen würden.

Von “sozialer Energie” spricht der Soziologie Hartmut Rosa in diesem Zusammenhang und meint damit eine besondere Form von Energie, die niemand alleine erzeugen kann, sondern die erst im Austausch, im gemeinsamen Tun – im gemeinsamen Diskutieren, Protestieren, Musizieren, Engagieren… – entsteht.

Unser Lebensglück hängt von Beziehungen ab

Zwar bekommen wir von allen Seiten eingehämmert, wir seien Individualisten, die ihr “wahres Ich” zu finden hätten, sich selbst optimieren müssen und ihres eigenen Glückes Schmied seien. Doch in Wahrheit können wir unser Glück nur gemeinsam mit anderen schmieden.

Das erkennt übrigens auch zunehmend die psychologische und medizinische Forschung: Als wichtigsten Faktor für Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit hat etwa eine großangelegte Studie der Harvard University die Qualität unserer sozialen Beziehungen ausgemacht.

Die Frage, ob man sich geschätzt und geliebt fühlt, eingebunden in ein Netz von Freunden und Bekannten, ist für das Lebensglück wichtiger als Geld, Erfolg oder materieller Besitz. Andere Untersuchungen zeigen, wie sehr die Gesundheit vom sozialen Umfeld abhängt. Wer sich sozial unterstützt fühlt, wir weniger oft krank, nach Operationen schneller gesund, kann Schmerzen und Stress besser verarbeiten.

Auch solche Studien sind Bausteine für eine lebenswerte Zukunft: indem sie nämlich zeigen, dass unser Lebensglück nicht so sehr von materiellem Wohlstand und Besitz abhängt, sondern eher von immateriellen Faktoren wie Beziehungsreichtum, Zeitwohlstand oder Sinnhaftigkeit.

Um solchen Werten mehr Gewicht in unserer Gesellschaft zu geben, braucht es nicht in erster Linie mehr Technik oder Wirtschaftswachstum, sondern vor allem soziale Intelligenz: das Wissen darum, was uns Menschen lebendig macht.

Wer zum Beispiel nicht nur um sich selbst kreist, sondern sich auch für andere engagiert, kann – wie Nelson Mandela oder die mittelalterlichen Baumeister – einen Zuwachs an sozialer Energie und die “Kraft der großen Sache” erleben.

Das Schöne an dieser Art von Energie ist, dass sie nichts kostet und sich täglich erneuern kann. Und vielleicht brauchen wir zur Überwindung des fossilen Zeitalters und zur Lösung unserer Zukunftsprobleme nichts so sehr wie diese Art von unerschöpflicher sozialer Energie.

 

Foto: Martina von Kann
Ulrich Schnabel ist Autor, Redner und seit über 30 Jahren Redakteur der Wochenzeitung DIE ZEIT in Hamburg. Seine Arbeit wurde mehrfach ausgezeichnet, seine Bücher wie Muße oder Zuversicht waren Bestseller. Zuletzt erschien von ihm Zusammen. Wie wir mit Gemeinsinn globale Krisen bewältigen.

Am 12. September 2024 ist Ulrich Schnabel zu einem Online-Abend bei Ethik heute zu Gast mit dem Vortrag:  Soziale Intelligenz: Warum wir mehr bewirken, als wir denken. Mehr Infos

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Ein sehr schöner Artikel, der die richtigen Ansätze zeigt, wie Akzeptanz, der Transformation und die Idee der sozialen Energie, Intelligenz. Wer aber, wie ich in sozialen Zusammenhängen lange gearbeitet hat, weiß, wie anstrengend und schwierig das ist. Man braucht Raum und Mut und einen echten Willen, um miteinander anders zu kommunizieren. Das erlebt man in Wirklichkeit sehr selten, deswegen wünsche ich uns allen viel von Liebe , Verständnis und Mitgefühl geprägte Situationen, Packen wir es an!

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