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Vertrauen schenken

Joshua Hibbert/ unsplash
Joshua Hibbert/ unsplash

Ein Denkanstoß von Ina Schmidt

Vertrauen ist die Basis unseres Lebens. Wir können nicht leben, wenn wir anderen nicht ein Mindestmaß an Vertrauen schenken. In der Krise jedoch greift Misstrauen um sich. Die Philosophin Ina Schmidt rät, gerade in unsicheren Zeiten bewusst ins Vertrauen zu gehen. Denn wir sind als Menschen in der Lage, auch schwierige Situationen zu meistern.

Auf meinem Schreibtisch steht ein kleiner weißer Wolf. Er hat keinen festen Platz und wandert immer mal wieder von einer Seite des Tisches zur anderen, muss Bücherstapeln oder Ordnern weichen. Manchmal landet er auf der Fensterbank und ist für eine Weile hinter der Gardine verschwunden.

Aber er ist da und bleibt wichtig, ganz egal, wo er gerade steckt. Er ist da, um mich an etwas zu erinnern: eine Geschichte, in der ein kleiner Junge seinen Großvater fragt, warum es eigentlich Gutes und Schlechtes auf der Welt gibt und warum es manchmal so schwer ist, das Gute zu tun, und was einen wohl davon abhält.

Der Großvater antwortet dem Jungen mit einem Gleichnis, dem Ringen zweier Wölfe, die für das Gute und das Schlechte stehen, und die in jedem von uns, jeder Form von Leben ihren Platz haben. „Aber wenn es doch immer ein Ringen der beiden Wölfe ist“, entgegnet der Junge dem Großvater: “Woher weiß ich dann, welcher gewinnen wird?“ So wie es Großväter in solchen Geschichten tun, lächelt dieser weise und antwortet: „Es gewinnt der, den du fütterst.“

Mir gefällt an dieser Geschichte die Vorstellung, dass wir das Gute groß und stark werden lassen können, wenn wir es pflegen, nähren. Zumindest können wir versuchen, uns nicht durch die Widrigkeiten oder Unsicherheiten einer Welt, die dem im Weg zu stehen scheint, abhalten zu lassen.

Wie lernen wir, mit Verunsicherung zu leben?

Denn ja, es sind unsichere Zeiten, unübersichtlich, manchmal beängstigend, voller Spannungen. Und das schon eine ganze Weile. Aber alle Zeiten sind auf ihre eigene Weise unsicher. Und egal, wie dramatisch die Lage zu sein scheint, es gelingt uns mal besser und mal schlechter, mit diesen Verunsicherungen zu leben. Und derzeit leben wir eher schlechter mit ihnen.

Gewöhnt an ein Leben und Denken in Kausalitäten, geistiger Zielstrebigkeit und geplanter Effizienz, geraten wir seit vielen Monaten beständig an unsere Grenzen – geistig, seelisch, körperlich. Denn es stehen nicht nur keine klaren Antworten zur Verfügung, sondern auch die Instrumentarien und Fähigkeiten, die Welt- und Menschenbilder scheinen in Frage zu stehen, die wir bisher ziemlich ungeprüft nutzen konnten, um Unsicherheiten zu begegnen.

Buzzwords wie Agilität, Transformation und Disruption machen die Runde, aber durch die gegenwärtige Krise verstehen wir oft erst, was wirklich gemeint ist.

Oft finden wir uns in Konflikten, auf verschiedenen Seiten einer Diskussion als Gegner wieder. Statt uns darin zu üben, Risiken abzuwägen, Argumente zu prüfen und das Bestmögliche zu versuchen, verstricken wir uns in emotionaler Empörung und auf dem Boden der Verunsicherung wuchern die krudesten Gedankenwelten.

Aber warum ist das so? Was ist es, was wir ganz persönlich dieser wahrhaft existenziellen Krisenerfahrung entgegensetzen können? Wie lernen mit einer Verunsicherung zu leben, die nicht gelöst oder überwunden werden, sondern als Teil eines unabsehbaren Prozesses anzunehmen ist?

Solche Fragen sind dringlich, dabei aber alles andere als neu. Bereits vor über 2000 Jahren stolperten und staunten die antiken Denker über genau diese existenzielle Verunsicherung im Angesicht eines Lebens, das beständig im Wandel, unvollkommen und vulnerabel ist.

Was gut ist, ist nicht immer eindeutig

Jetzt geht es weniger darum, sich zu entscheiden, welche Regelung, welche politischen Urteile oder medizinischen Studien das letzte Wort haben dürfen. Die Kernfrage ist, woran wir zu glauben bereit sind. Was bewegt uns dazu, etwas zu glauben, etwas für bedeutsam zu halten und etwas anderes nicht? Nicht in einem religiösen oder spirituellen Sinne, sondern in einem philosophischen.

Zu philosophieren, bedeutet den Versuch, sich denkend einer Welt zu nähern, um sie zu verstehen, auch wenn sie nicht immer zu erklären ist. Sich selbst in ein prüfendes Verhältnis zu dem zu setzen, was ich wahrnehme, erlebe, denke und sich zu fragen, warum das so ist.

Es braucht den Glauben an die eigene Vernunftbegabung, an die Verbindung von Verstand und Emotion, der wir uns denkend nähern können. Und es braucht die Bereitschaft, sich darin zu üben, eigene Urteile zu fällen und die Bergündungen anderen mitzuteilen.

Es wird Momente geben, in denen eine Antwort leicht fällt, weil das Gute nicht eindeutig zu erkennen ist. Aber meist gibt es diese Eindeutigkeit nicht: Was ist für mich gut, was für meine Familie und was für die Gemeinschaft? Womit zeige ich mich solidarisch und warum? Und worauf verzichte ich aus gutem Grund?

Versuche ich ernsthafte Antworten auf diese Fragen zu finden, dann nähere ich mich einem Verständnis des Guten, das über das hinausreicht, was nur für mich und meine eigene Bedürfnisse gut zu sein scheint. An dieses pluralistisch wirksame „Gute“ zu glauben, darum geht es. Und gleichzeitig zu überlegen, was wir dafür zu tun bereit sind, wenn wir es groß und stark werden, also auch gemeinsam „füttern“ wollen.

Vertrauen bedeutet zu geben, statt zu nehmen

Um diesen Schritt gehen zu können, braucht es eine besondere Kraft, die uns gegeben ist: das Vertrauen. In Zeiten, in den wir den Eindruck gewinnen, dass Misstrauen und prüfende Distanz um sich greifen, scheint diese Kraft schwächer zu werden. Aber ohne zu vertrauen, wären wir nicht in der Lage, morgens aufzustehen, den Tag zu beginnen, in einen Bus zu steigen oder ein Kundengespräch zu führen.

Wir vertrauen, indem wir daran glauben, dass wir die Dinge jeden Tag wieder im Sinne des Guten auf den Weg bringen, uns auf Zusammenhänge verlassen und auf die Urteile anderer zählen können – bei aller Unsicherheit und der Möglichkeit, dass es auch anders sein könnte.

Wir können nicht sicher wissen, ob die Taxifahrerin uns an das gewünschte Ziel bringt, aber wir können darauf vertrauen – weil wir sie für kompetent und vertrauenswürdig halten und bisher immer gute Erfahrungen mit dieser Einschätzung sammeln konnten. Wir vertrauen darauf, dass wir auch in der Krise nach vorn denken und Zukunft möglich machen können, auch wenn wir nicht immer das verwirklichen können, was wir für das Beste halten.

Wie also schaffen wir es, diese Kraft zu stärken, ohne blind auf die Kraft des Guten zu vertrauen und die Not derer zu vernachlässigen, die die Krise hart trifft? Vertrauen bedeutet nicht, an das Gute im Schlechten zu glauben, sondern sich darauf zu besinnen, dass wir auch in Zeiten von Not und Verunsicherung in der Lage sind, unser Leben wirksam zu gestalten.

Es mögen kleine Schritte sein, manchmal Wege, die noch kein Ziel erkennen lassen, aber es gibt Möglichkeiten: Menschen, die wir um Hilfe bitten, und Fragen, die wir stellen können. Der Mensch ist in der Lage zu vertrauen, weil er sich ein Urteil bilden kann – er oder sie kann wissen, was „der Fall ist“. Er kann die Lage prüfend in den Blick nehmen, um festzustellen, wer oder was darin vertrauenswürdig ist und was nicht.

Um unter solchen Bedingungen Vertrauen wachsen zu lassen, braucht es aber den eigenen Entschluss, Vertrauen zu wollen. Wir müssen in Vorlage gehen, jemandem oder etwas einen Vorschuss geben: Wir schenken jemandem unserer Vertrauen, und darin bleibt immer eine letzte Ungewissheit bestehen.

Denn Vertrauen bedeutet keine Garantie, sondern es kann auch missbraucht werden und braucht entsprechend gute Gründe. Gerade in Zeiten der Verunsicherung gilt es also, beide Wölfe in den Blick zu nehmen, sich klar zu machen, dass sie beide ihre Berechtigung haben. Lebendigkeit kommt durch Polarität, durch Spannung und Konflikt ebenso zum Ausdruck wie durch Liebe, Harmonie und Gemeinschaft.

Wenn wir uns auf die Kraft des Vertrauens besinnen und das Geschenk des Vertrauens machen wollen, müssen wir den guten Wolf hinter der Gardine hervorholen und ihn mitten auf den Schreibtisch stellen, wo er nicht zu übersehen ist. Damit wir uns selbst immer wieder daran erinnern, wie groß und stark er werden kann, wenn wir uns gut um ihn kümmern.

Dr. Ina Schmidt studierte Kulturwissenschaften und Philosophie. 2005 gründete sie die denkraeume, eine Initiative für philosophische Praxis. Buchautorin, Referentin der Modern Life School und des Netzwerks Ethik heute. Ina Schmidt lebt mit ihrem Mann und den gemeinsamen drei Kindern in Reinbek bei Hamburg. Jüngste Buchveröffentlichung: Über die Vergänglichkeit. Eine Philosophie des Abschieds, Edition Körber 2019.

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