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Was brauche ich wirklich?

Ryhor/ Photocase
Ryhor/ Photocase

Ein Selbstexperiment

Die Philosophin Ines Eckermann startete vor ein paar Monaten ein Experiment: Sie kündigte ihre Wohnung und verkaufte ihr Hab und Gut. Seitdem lebt und arbeitet sie an verschiedenen Orten und ist überrascht, wie einfach das Leben ist und was sie wirklich braucht.

Sie fährt auf dem Beifahrersitz mit ins Büro, sitzt neben uns vor dem Fernseher und drückt uns die Zahnpasta auf die Bürste: Die Selbstverständlichkeit ist unsere ständige Begleiterin. Und sie ist ein Grund, warum es in unserer Komfortzone so schön gemütlich ist. Doch während sie sich ungezwungen ins Sofakissen kuschelt, lässt sie uns vergessen, dass im Leben fast gar nichts selbstverständlich ist.

Deshalb habe ich nicht nur das Sofa, sondern fast alles andere verkauft, in das die Selbstverständlichkeit über die letzten Jahre gekrochen war. Die Wurzel des Experiments steckt allerdings weniger in meiner philosophischen Grundausbildung – sondern in der Wand meiner damaligen Speisekammer: Als ich eines Tages von einer Geschäftsreise zurückkam, schlug mir schon im Flur der muffige Geruch entgegen. Es schimmelte in der fast leeren Speisekammer. Und es schimmelte lange.

Gesunde und geruchsneutrale Luft wurde allmählich zum Luxus und irgendwann keine Selbstverständlichkeit mehr. Zumindest schien mein Vermieter das so zu sehen. Er ließ sich weder von mir noch vom Gesetz zum Handeln bewegen. Und plötzlich kam mir eine Idee.

Ich rief eine Freundin an und erzählte ihr davon – in der sicheren Annahme, dass sie mich auslachen und mir das ausreden würde. Doch das passierte nicht. Sie war begeistert. Und so war ich es auch – und kündigte die Wohnung. Aber ich wollte nicht einfach nur dem Schimmel entfliehen. Mein Ansatz war radikaler.

Was ich brauche, passt in einen 60-Liter-Rucksack

Und so startete ich vom Sofa aus in ein philosophisches Selbstexperiment. Schließlich ist Philosophie oft allzu theoretisch. Doch weder der Minimalismus noch zwischenmenschliche Begegnungen oder das gute Leben sind dafür gemacht, um allein theoretisch betrachtet zu werden. Also kam es mir sehr gelegen, dass ich nie in meinem Leben so viele Freiheiten hatte wie zu diesem Zeitpunkt:

Ich war ungebunden und konnte seit der Pandemie von überall aus arbeiten. Noch bevor das Kündigungsschreiben im Briefkasten meines Vermieters landete, stellte ich die ersten Möbel zum Verkauf bei Ebay rein. Bei jedem Teil fragte ich mich: Brauche ich das wirklich? Ist es mir wirklich so wichtig, dass ich einen Ort dafür finden möchte, an dem es bis zu meiner Rückkehr bleiben darf?

Eckermann

Bis auf ein paar Erinnerungsstücke, Bücher und Schallplatten, die ich irgendwo lagern konnte, verkaufte oder spendete ich alles, was ich bis dahin besessen hatte. Der große Ausverkauf dauerte fast die gesamten drei Monate bis zu Ende der Kündigungsfrist. Mit jedem Teil, das meine Wohnung verließ, fühlte ich mich etwas leichter.

Was ich wirklich brauche, passt seither in einen 60-Liter-Wanderrucksack. Nun war ich das, was in den sozialen Medien gerne als Digitalnomade bezeichnet wird. Anders als viele andere Digitalarbeiter wollte ich nicht in den nächsten Flieger nach Bali springen, sondern aus ökologischen Gründen am Boden bleiben und mit der Bahn reisen.

Als ich in den ersten Zug meiner Reise stieg, verabschiedete ich mich von vielem, was bis dahin selbstverständlich schien: Dem festen Zuhause, dem Schrank voller Kleidung, den Freunden und Bekannten in nächster Nähe, von meiner Muttersprache und von vielen anderen Kleinigkeiten, die in meinem Alltag von der Selbstverständlichkeit erdrückt wurden.

Ich brauche keine Wohnung für mich allein

Nachdem ich einige Monate zuvor den Auftrag für ein Online-Magazin erhielt, über die faszinierende Fahrrad-Infrastruktur der dänischen Hauptstadt zu schreiben, sollte Kopenhagen mein erster Stopp werden. Es waren die kleinen Dinge, wie die bürokratischen Wartenummern beim Bäcker oder die großen Dinge wie die Entscheidung, mit Mitte 30 wieder in einer WG zu leben, bei denen ich mich immer wieder fragen konnte: Brauche ich das wirklich?

Für vieles konnte ich diese Frage klar mit „Ja“ beantworten: Ja, ich brauche eine Zahnbürste und ein eigenes Bett. Aber ich brauche keine Wohnung für mich allein, denn das Leben mit Mitbewohnerinnen gefielt mir zehn Jahre nach meiner letzten WG sehr gut. Zu anderen Sachen konnte ich dagegen klar „nein“ sagen. Denn sogar in meinem sehr reduzierten Gepäck steckten noch ein paar Pullis und T-Shirts steckten, die ich nicht nutzte – und gar nicht brauchte.

Was ich dagegen brauchte, war ein intensiverer Blick auf die andere Seite. Da ich tief im Westen der Republik aufgewachsen bin, basierte der Großteil meines Wissens über die nicht mehr ganz so neuen Bundesländer vor allem auf Theorie und Hörensagen. Deshalb wollte ich mein Experiment auch dafür nutzen, den Osten etwas besser kennenzulernen und zog für eine Zeit nach Dresden.

Wenig überraschend unterscheiden sich in einem großen Land wie Deutschland die Mentalitäten zwischen den Regionen deutlich. Und gerne gebe ich die vermeintliche Selbstverständlichkeit auf, dass nur weil wir dieselbe Sprache sprechen, wir zwingend auch dieselbe Sozialisierung erlebt haben. Nur, wenn wir verstehen, wo wir herkommen, können wir unser Gegenüber wirklich verstehen. Dazu hatte ich in Dresden einige Gelegenheiten.

Beziehungen knüpfen unterwegs

Dagegen stellte ich fest, dass ich auf meine Muttersprache erstaunlich gut verzichten kann, wenn ich mich auf einer anderen mir vertraute Sprache verständigen kann. In Tschechien, meiner nächsten Station, merkte ich dagegen, wie selbstverständlich es bislang für mich war, dass ich mich verständlich machen konnte.

Zwar sprechen viele Menschen in Tschechien Deutsch, Englisch oder Russisch – aber mit manchen Menschen fand ich keine gemeinsame Sprache. An einem der ersten Tage, versuchte ich, ein Brot zu kaufen. Nur mit den Händen konnte ich erklären, dass ich gerne ein halbes Brot hätte. Den Preis verstand ich nicht und musste mir das Geld von der verständnisvollen Verkäuferin aus dem Portemonnaie zählen lassen. Ohne die Selbstverständlichkeit der gemeinsamen Sprache muss die Kommunikation schlichtere Wege finden.

Doch wenig verbindet so schnell wie ein gemeinsames Interesse: In Kopenhagen fand ich schnell Anschluss an eine Autorengruppe, die sich zweimal pro Woch in einem Café traf. Die Gruppe bestand aus Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen, doch durch unsere gemeinsame Leidenschaft fürs Schreiben entwickelten wir schnell eine überraschend tiefe Verbundenheit.

Und manchmal können verschiedene Sprachen eine enorme Schönheit entwickeln: Am Abend nach einem unserer Treffen blieb eine kleine Gruppe zurück. Jeder von uns teilte ein selbstgeschriebenes Gedicht mit den anderen, erst auf der Muttersprache, dann in der englischen Übersetzung.

Unsere Sprache ermöglichte uns für einen kurzen Moment das Fühlen in HD. Und – zumindest für mich – zeigte sich, dass die Tiefe einer Begegnung nicht zwingend mit deren zeitlicher Länge verbunden sein muss. Ich muss ja auch nicht jede Blume pflücken und zuhause in eine Vase stellen, um ihre Schönheit im aktuellen Moment genießen zu können.

Bevor ich aufbrach, dachte ich noch, dass ich nach wenigen Monaten am liebsten wieder mit meiner Selbstverständlichkeit auf dem Sofa sitzen wollen würde. Doch je länger ich unterwegs bin, desto mehr Ideen habe ich, wo ich noch hin möchte und was ich noch ausprobieren will. Vieles bleibt also alles andere als selbstverständlich.

Foto: privat

Ines Maria Eckermann machte einen Bachelor in Spanisch und einen Doktor in Philosophie. Nebenbei heuerte sie als freie Mitarbeiterin bei verschiedenen Medien an. Seither ist sie dem Glück auf der Spur und engagiert sich im Umweltschutz.

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