Was heißt es eigentlich, Zeit zu verlieren?

Lena Hesse
Lena Hesse

Eine Anregung von Ina Schmidt

Wir haben oft das Gefühl, Zeit zu verlieren oder nicht genug zu haben. Sind Zeiten wie der Lockdown, die anders verlaufen als erhofft, verlorene Zeiten? Die Philosophin Ina Schmidt regt an, das Denken in eine andere Richtung zu lenken, um neue Handlungsspielräume zu haben.

Nicht nur in Corona-Zeiten überlegen wir oft: Wann können wir endlich wieder das tun, was uns wichtig ist, was wesentlich ist, wozu wir Lust haben? Die Zeit läuft, und so manchem läuft sie davon. Wir verlieren kostbare Zeit, wenn sich nicht bald wieder Normalität einstellt, aber können wir Zeit wirklich verlieren?

Zeit ist ein eigenartiges Phänomen. Sie rennt oder sie zieht sich in die Länge, je nachdem, ob wir mit guten Freunden eine Onlineweinprobe machen oder im Stau stehen, im Wald spazieren gehen oder sehnsüchtig den Lockerungen entgegen warten.

Und doch gehen wir jeden Tag mit Zeit um und überlegen, was wir wann und wie mit ihr anfangen wollen. Wir können Dinge sehr schnell tun und hier da ein wenig Zeit gewinnen. Wir können sie aber auch verschwenden, vertun oder gar totschlagen.

Wenn wir das Gefühl haben, Zeit zu verlieren, dann hätten wir mit unserer Zeit gern etwas anderes gemacht, und nun ist sie eben nicht mehr da. Statt noch ewig mit der Nachbarin zu plaudern, hätten wir uns lieber gleich auf den Weg gemacht, so haben wir schon wieder eine halbe Stunde verloren.

Aber ist das wirklich so? Sind diese Zeiten, die ungeplant anders verlaufen als gewollt, ein Verlust?

Ist also 2020 mit inmitten der Pandemie und dem Dauer-Lockdwon ein verlorenes Jahr? Ich kann nicht sagen, dass ich Zeit verloren hätte, im GegenteilTrotzHomeoffice und Homeschooling hatte ich sogar viel mehr Zeit als gewohnt. Weniger Hektik, weniger Erledigungen, weniger Termine und Besuche. Keine Reisen, die doch immer recht viel Zeit brauchenund letztlich eine Menge an Zeit, über die ich neu verfügen konnte, aber eben auch musste. Ob ich das nun wollte oder nicht.

“Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken”

Bei allem Schmerz über den Verlust dessen, was war und all der Unsicherheit über die Zukunft, sind wir nun aufgerufen, einen anderen Umgang mit Zeit zu lernen. Hinein ins Offene, ohne zu wissen, was wir wirklich mit damit werden anfangen können.

Als Anstoß reicht es schon, sich einmal zu fragen, wie wir den Lauf der Zeit eigentlich verstehen. Leben wir in einer „gestundeten Zeit“, wie es die Dichterin Ingeborg Bachmann beschrieb, getrieben vom Ticken der Uhr, die uns den Takt des Tages vorgibt?

Oder gelingt es uns, mit dem französischen Philosophen Henri Bergson so etwas wie eine „organische Zeit“ zu leben, die den Dingen ihre „Dauer“ lässt und versteht, dass das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht?

Wenn wir uns darin üben, die Ereignisse in ein anderes zeitliches Verhältnis zu setzen, dann kann es sogar gelingen, verlorene Welten als Erinnerung in der Gegenwart lebendig zu halten und sie vielleicht für eine Zukunft vorzubereiten.

Ganz so, wie es der Schriftsteller Marcel Proust in seinem großen Werk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ beschreibt. In einer berühmt gewordenen Passage beschreibt Proust, wie der Geschmack eines Madeleine-Gebäcks den Erzähler in der Zeit zurückreisen lässt. Erinnerungen an die eigene Welt der Kindheit werden wach und damit eine alte, längst verloren geglaubte Welt.

In unseren Erinnerungen können auch wir vermeintlich vergangene Welten mit Geburtstagsfeiern und Fußballspielen am Leben erhalten und für Bedingungen sorgen, die sie in Zukunft vielleicht wieder möglich machen. Statt die Verluste und verlorenen Zeiten zu beklagen, hilft es, die eigene Zeit sehr bewusst mit dem zu füllen, was gerade möglich, was vielleicht gerade wesentlich ist.

Ganz so wie Beppo Straßenkehrer, der in Michael Endes wunderbarem Buch Momo einen sehr guten Rat für Zeiten der Unsicherheit zu geben weiß: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, verstehst Du? Man muss nur an den nächsten Schritt denken, an den nächsten Atemzug, an den nächsten Besenstrich. Und immer wieder nur an den nächsten“

Wieder hielt er inne und überlegte, ehe er hinzufügte: „Dann macht es Freude; das ist wichtig, dann macht man seine Sache gut. Und so soll es sein.“ Und abermals nach einer langen Pause fuhr er fort: „Auf einmal merkt man, dass man Schritt für Schritt die ganze Straße gemacht hat. Man hat gar nicht gemerkt wie, und man ist nicht außer Puste.“ Er nickte vor sich hin und sagte abschließend: „Das ist wichtig.“

Foto: Gaby Bohle

Dr. Ina Schmidt studierte Kulturwissenschaften und Philosophie. 2005 gründete sie die denkraeume, eine Initiative für philosophische Praxis. Sie ist Buchautorin, Lehrbeauftragte der Professional School an der Leuphana Universität und Referentin u.a. für das Netzwerk Ethik heute. Ina Schmidt lebt mit ihrem Mann und ihrer Familie in Reinbek bei Hamburg.

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