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Weniger tolerieren, mehr lieben

Mick Haupt/ Unsplash
Mick Haupt/ Unsplash

Ein Impuls zum Nachdenken

Toleranz ist für das Zusammenleben von Menschen wichtig, weil sie uns hilft, das, was wir am anderen nicht schätzen, doch zu akzeptieren. Aber Toleranz hat etwas Trennendes, denkt die Autorin Margrit Irgang und fragt: Braucht ein Mensch, der zu echter Liebe fähig ist, Toleranz? 

 

Vor ein paar Tagen habe ich nach langer Zeit wieder einmal eine Tageszeitung gelesen. Erstaunt stellte ich fest, dass ich offenbar eine sprachliche Entwicklung in unserer Gesellschaft nicht mitbekommen habe. In Artikeln zu ganz unterschiedlichen Themen wurde ich aufgefordert, etwas zu tolerieren:

die Flüchtlinge, die andere Lebensweise der Flüchtlinge, den Lärm aus der Kneipe, solange er nicht nach zehn Uhr anhält, die Kinder in der Nachbarschaft, gewisse Grenzwerte an Luftverschmutzung und Wasserbelastung (“Ihr Körper kann das tolerieren”). In der Wochenend-Beilage mit den bunt-vermischten Themen empfahl eine Ehe-Beraterin, “die kleinen Eigenheiten des Partners großzügig zu tolerieren”.

Meine Nachkriegskindheit war von Intoleranz durchtränkt. Der jungen Nachbarin, schwanger mit dem Kind eines dunkelhäutigen Amerikaners, wurde fristlos die Wohnung gekündigt. Und später bezeichnete der Hausmeister des Apartment-Hauses, in dem ich meine erste Wohnung hatte, meinen Freund mit dem Vollbart und den langen Haaren als „Affen“ und fand immer neue Gründe, ihn zu schikanieren, wenn er zu Besuch kam.

Wir haben aus der Vergangenheit gelernt, dachte ich beim Lesen der Zeitung. Und doch verspürte ich bei all den gut gemeinten Aufforderungen zur Toleranz ein Gefühl des Ungenügens. Ist Toleranz wirklich die Lösung für ein friedvolles, gutes Miteinander in unserer Gesellschaft?

Braucht ein Mensch, der zu Liebe fähig ist, Toleranz?

Das philosophische Wörterbuch definiert das lateinische „tolerare“ als „Dulden und Ertragen der Anschauungen, Sitten und Lebensformen anderer, die von den eigenen abweichen.“ Das davon abgeleitete Adjektiv und Adverb „tolerant“ hat laut Duden Herkunftswörterbuch unter anderem die Bedeutung „nachsichtig“.

Ich möchte dem Paar aus Ghana, das in der Nähe im Flüchtlingsheim lebt und mit seinen beiden Kleinen täglich auf dem Weg zur Bushaltestelle an meinem Haus vorbeikommt, nicht vermitteln, dass ich es toleriere. Damit würde ich ihm sagen: Ich dulde eure Anwesenheit in „meinem“ Land, ich sehe nachsichtig darüber hinweg, dass ihr anders ausseht, euch anders bewegt und anders kleidet, als es bei uns üblich ist.

Ich möchte auch mit niemandem verpartnert sein, der meine Eigenheiten großzügig toleriert. Wenn er sie tolerieren muss, gehen sie ihm offenbar auf die Nerven. Sollten wir darüber nicht besser reden? Wie lange wird seine Nachsicht für mich reichen, und wenn sie am Ende ist – gibt es dann in unserer Beziehung noch etwas, das uns trägt? Zum Beispiel ganz schlicht die Liebe, die, wie es in der Bibel heißt, duldsam und langmütig ist. Aber diese Duldsamkeit ist tief und kraftvoll und schafft einen Raum der Geborgenheit. Braucht ein Mensch, der fähig zu wahrer Liebe ist, die Toleranz?

Zwei Haltungen stehen sich gegenüber

Neulich bekam ich von Amts wegen die Nachricht, dass ich als Fahrerin meines Pkws bei einer Geschwindigkeitsmessung den Toleranzbereich um zehn Kilometer pro Stunde überschritten hätte. Das war teuer. Auch der Toleranzbereich der meisten Menschen ist nach meiner Erfahrung ziemlich klein, und wenn man ihn überschreitet, bekommt man so richtig Ärger.

Neulich bekam ich von Amts wegen die Nachricht, dass ich als Fahrerin meines Pkws bei einer Geschwindigkeitsmessung den Toleranzbereich um zehn Kilometer pro Stunde überschritten hätte. Das war teuer. Auch der Toleranzbereich der meisten Menschen ist nach meiner Erfahrung ziemlich klein, und wenn man ihn überschreitet, bekommt man so richtig Ärger.

Die Haltung der Toleranz besagt: Also eigentlich mag ich dich und dies und jenes an dir und in der Welt nicht so recht. Eigentlich würde ich mir wünschen, dass du und dies und jenes ganz anders sind (so, wie ich bin und wie ich es gut finde). Aber ich will großzügig über deine Unvollkommenheit hinwegsehen.

In der Toleranz liegt ein feiner Hauch von Herablassung. Der Nachsichtige erhebt sich über den, dem er nachsieht, dass er leider nicht so ist, wie der Nachsichtige ihn sich wünscht. Der in unserer Gesellschaft positiv konnotierte Begriff Toleranz erlaubt es ihm, seine Haltung als gut und lobenswert zu empfinden.

Deshalb ist es so schwer, die Situation in ihrer Gesamtheit zu überblicken und zu sehen, was hier eigentlich passiert: Zwei Menschen, zwei Haltungen, zwei Ansichten, zwei Kulturen stehen einander gegenüber, ohne einander zu begreifen oder gar sich aufeinander zuzubewegen. Toleranz ist daher Trennung: Ich fühle mich getrennt von der Person oder Situation, die Eigenschaften hat, die mir unangenehm sind.

Gleichzeitig bin ich auch getrennt von mir selbst, denn das Tolerieren befreit mich keineswegs von dem unbehaglichen Gefühl, das von dem zu Tolerierenden in mir ausgelöst wurde. Es sei denn, ich wende mich von dem anderen völlig ab, aber dann bin ich in der Gleichgültigkeit.

Zulassen und in Verbindung sein

Haben wir – als Einzelne wie als Gesellschaft – eine bessere Antwort auf die Probleme unserer Zeit als die Toleranz? Akzeptieren statt tolerieren könnte ein erster Schritt sein. Aber wie wäre es, wenn wir das, was anders ist als wir, vorbehaltlos zulassen könnten?

Dann darf das Andere so sein, wie es ist: bunt, interessant, vielleicht unbegreiflich, vielleicht herausfordernd. Zulassen heißt: die Vielfalt feiern, das Variantenreiche, genau das, was ich nicht bin. Ohne den Wunsch, den anderen und das andere nach meinen Vorstellungen hinzubiegen.

Zulassen ist eine liebevolle Geste, die Verbundenheit schafft. Auch ich selbst muss mich zulassen können, mit all meinen Wünschen, Bedürfnissen, Hoffnungen, Ängsten und meiner Unvollkommenheit. So wird das Zulassen des Anderen nie zur persönlichen und gesellschaftlichen Zumutung und Überforderung.

Da ich mich selbst erkenne und zulasse, weiß ich, was wichtig und notwendig ist, um mein Wohlbefinden zu erhalten, und handle danach. Nicht aus der Trennung vom Anderen heraus, sondern aus der Verbundenheit. In dem Wissen, dass meine Freude, Kraft, Zuversicht und mein Frieden entscheidend beitragen zu Freude, Kraft, Zuversicht und Frieden in der Gesellschaft. Zulassen ist Jasagen und erlaubt auch das manchmal notwendige Nein, das dann keine Abweisung mehr ist.

Foto: privat

Margrit Irgang ist Schriftstellerin und Dichterin. Sie erhielt für ihre Erzählungen und Gedichte etliche Literaturpreise. Seit 1984 praktiziert sie Zen, seit 1992 bei Thich Nhât Hanh. Seit über 20 Jahren gibt sie Meditations-Retreats. Auf ihrem Blog www.margrit-irgang.blogspot.de erkundet sie die Poesie des Augenblicks.

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