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Wie kommen wir der Selbsttäuschung auf die Schliche?

Pretty Vectors/ Shutterstock
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Über unsere blinden Flecken

Wir Menschen sind gut darin, uns selbst zu täuschen und zu belügen, so die Philosophin Ines Eckermann. Selbstüberschätzung, etwa des eigenen Charakters, ist noch harmlos. Schlimmer ist der Selbstbetrug, bei dem unser Verstand eine Wahrnehmung abseits der Realität kreiert. Abhilfe schaffen die Selbstreflexion und ein offenes Ohr für die Meinung anderer.

 

„Man ist nie scharfsinniger, als wenn es darauf ankommt, sich selbst zu täuschen und seine Gewissensbisse zu unterdrücken.“ François Fénelon

 

Die Beine der allermeisten Lügen sind so kurz, dass man mit ihnen nicht weit kommt. Und so geht der Lüge früher oder später die Puste aus. Ganz anders sieht das aus, wenn wir uns selbst belügen und betrügen. Schließlich können wir vor uns selbst nicht davonlaufen – und müssen es auch gar nicht. Denn wer die Kunst des Selbstbetrugs beherrscht, verschleiert die Wahrheit so gut vor sich selbst, dass er sich ohne weiteres nicht beim Lügen ertappen wird.

Die Einsteigervariante der Selbsttäuschung ist die Selbstüberschätzung. Dass wir uns vor allem dann überschätzen, wenn wir keine Ahnung haben, nennt sich in der Psychologie Dunning-Kruger-Effekt. Beispielsweise glaubten 42 Prozent der Software-Ingenieuren in einer Befragung, zu den besten fünf Prozent der Software-Entwickler zu gehören. (1)

Der Dunning-Kruger-Effekt beschreibt also unsere Selbstüberschätzung und zugleich das Unterschätzen unserer Konkurrenz. Dieser Effekt wird seit Ende der 1990er Jahre immer wieder bestätigt. Neuere Studien zeigen, dass unsere Selbstüberschätzung kaum Grenzen zu kennen scheint: in fast allen Bereichen unserer Persönlichkeit und unserer Fähigkeiten. Wir halten uns für überdurchschnittlich gute Arbeitskräfte, für besonders intelligent und großherzig oder zumindest für etwas attraktiver als manche Mitmenschen.

Der Grund dafür ist simpel. Wir wollen nicht nur anderen gefallen, sondern auch uns selbst. Und wenn wir noch nicht so sind, wie wir gerne wären, dann drehen wir an unserer Wahrnehmung. Schließlich geht es viel schneller, unser Spanisch einfach für verhandlungssicher zu halten, als regelmäßig Vokabeln zu pauken.

Warum wir alle die besten sind

Hinzu kommt, dass wir zugleich oft keine gute Meinung von unseren Mitmenschen zu haben scheinen: So halten sich viele Befragte laut einer Studie für nachhaltiger und umweltbewusster als die Menschen in ihrem Umfeld. (2)

Da wir jedoch schon rein rechnerisch nicht alle über den Durchschnitt liegen können, wird klar: Bei uns selbst drücken wir gern mal ein Auge zu, während wir bei anderen ganz genau hinsehen. Damit verstärken wir die blinden Flecken, hinter denen sich unser wahres Ich versteckt.

„Die Lüge ist der eigentliche faule Fleck in der menschlichen Natur“, stellte schon Immanuel Kant fest. Dass wir Meister der Selbsttäuschung zu sein scheinen, widerspricht Kants Wunsch, öfter mal auf die Vernunft zu hören.

Kants aufklärerisches Plädoyer, dass wir uns doch bitte unseres eigenen Verstands bedienen sollen, ruft also nicht nur zum Selbstdenken auf, wenn es um Regeln und Täuschungen geht: Sapere aude – habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen. Und hör endlich auf, dich selbst zu belügen.

Wir müssen uns also eingestehen: Wir täuschen uns. Und wenn wir das nicht tun, dann schauen wir zumindest nur sehr schlampig auf unsere eigenen Unzulänglichkeiten. Auch der Glaube, wir seien rationale und uns unserer Selbst bewusste Wesen, ist in weiten Teilen wohl nicht viel mehr als eine Selbsttäuschung.

Doch wie ein zu gut verstecktes Osterei fängt auch die beste Lüge irgendwann an, sich bemerkbar zu machen. Um der Quelle des faulen Flecks auf die Spur zu kommen, müssen wir uns durch ein Dickicht aus kognitiven Verzerrungen, sogenannten Biases, schlagen.

Damit bezeichnet die Psychologie eine ganze Reihe von Mechanismen, mit denen unsere Wahrnehmung unsere Erlebnisse falsch oder verzerrt auswertet. Richard Rorty hielt solche Fälle von versehentlicher, psychologischer Verzerrung für moralisch unbedenklich und sogar für heilsam für unser Wohlbefinden. Diese innere Verdrehung der Tatsachen kann unser ohnehin geschöntes Selbstbild weiter aufpolieren.

Selbsttäuschung und Selbstbetrug

Dabei gibt es verschiedene Grade der verzerrten Wahrnehmung, die Selbsttäuschung und den Selbstbetrug. Bei einer Selbsttäuschung liegen wir versehentlich falsch und lassen uns mit etwas Nachdruck durch die Außenwelt eines Besseren belehren lassen.

Beim Selbstbetrug tritt der Verstand auf den Plan, und dieser erweist sich als deutlich verschlagener: Selbstbetrug ist der Wille und die Fähigkeit, den Kontakt zur Realität ganz oder in Teilen aufzugeben. Ein schlichtes Beispiel für einen willentlichen Selbstbetrug ist das Mantra, dass alles gut wird. Denn dafür gibt es in der Regel ebenso wenig rationale Belege wie für Verschwörungserzählungen.

Ob wir glauben, dass das Universum uns wohlgesonnen ist und uns irgendwann das Leben schenken wird, das wir uns wünschen, gehört ebenso ins Reich der Selbsttäuschung wie der Glaube an Echsenmenschen oder Microchips im Corona-Impfstoff. Beim Selbstbetrug entscheiden uns wider jede Vernunft und ohne handfeste Beweise dafür, etwas zu glauben, was wir nicht belegen können.

„Belügen Sie sich nicht selbst“

Wir verbeißen uns hartnäckig in unsere falschen Knochen. So hielt sich manch einer in einer Studie sogar nach einer vermasselten Führerscheinprüfung noch für einen exzellenten Autofahrer. (3)

Wir haben ein bestimmtes Idealbild von uns, dem wir gerne immer ähnlicher werden möchten. Und gelegentlich nimmt unsere Selbstwahrnehmung offenbar die Abkürzung über den Selbstbetrug. Dann errichten wir ein Idealbild von uns und verraten uns selbst nicht, dass wir uns gegen eine geschönte Variante unserer selbst ersetzt haben.

Und schon 1699 schrieb François Fénelon: „Man ist nie scharfsinniger, als wenn es darauf ankommt, sich selbst zu täuschen und seine Gewissensbisse zu unterdrücken.“ Während die Lügen unserer Mitmenschen meist eher kurze Beine zu haben scheinen, rennen wir auf unseren eigenen Stummelbeinchen ganze Lügenmarathons. Entsprechend ruft der Selbstbetrug meist auch den Selbstzweifel auf den Plan.

„Belügen Sie sich vor allem nicht selbst. Ein Mensch, der sich selbst belügt und seiner eigenen Lüge zuhört, kommt an einen Punkt, an dem er weder in sich selbst noch in seiner Umgebung eine Wahrheit erkennen kann“, mahnte Fjodor Dostojewski. Wenn wir nicht mal uns selbst trauen können, wem können wir dann überhaupt trauen? Der Selbstbetrug würde René Descartes schnell an den Rand seiner argumentativen Kräfte treiben.

Offen sein für die Fremdwahrnehmung

Judith Buttler fürchtet, dass der Selbstbetrug unser Gewissen korrumpiere. Schließlich müssen wir durchgehend ignorieren, dass wir die Wahrheit in den dunklen Keller unseres Bewusstseins gesperrt haben. Doch wer sich einmal auf den Selbstbetrug eingelassen hat, kommt da nur mit sehr viel Selbstreflexion und Kritikfähigkeit wieder von weg.

Hilfreich ist jedenfalls ein offenes Ohr für die Fremdwahrnehmung und die Meinung von Außenstehenden. Zwar bekommen unsere Mitmenschen nur einen kleinen Ausschnitt unserer Persönlichkeit mit und bewerten dieses auf der Basis ihrer eigenen Paradigmen. Dennoch kann uns der Blick von außen manchmal die Augen öffnen.

Wenn wir uns beispielsweise für sehr ausgeglichen halten, unsere Kollegen allerdings hinter vorgehaltener Hand über unsere cholerischen Anfälle tuscheln, könnte das ein Hinweis auf einen möglichen Selbstbetrug sein. Und einige blinde Flecken wird wohl auch der reflektierteste Menschen nicht loswerden.

Dass wir ab und zu daneben liegen, können wir wohl nicht vermeiden. Dagegen scheint es uns selbst gegenüber nur fair zu sein, dass wir uns gelegentlich selbst ganz genau unter die Lupe nehmen und in Frage stellen. Wie sehr passt unser selbstgebasteltes Bild von uns zur Realität? Wirken wir auf andere so, wie wir gerne wirken möchten? Oder sind wir auf unseren kurzen Beinen längst vor der Realität geflohen?

Quellenhinweise:

(1) Zur Studie Dunning-Kruger-Effekt

(2) Studie Nachhaltigkeit

(3) Studie TÜV Nord

Foto: privat

Ines Maria Eckermann machte einen Bachelor in Spanisch und einen Doktor in Philosophie. Nebenbei heuerte sie als freie Mitarbeiterin bei verschiedenen Medien an. Seither ist sie dem Glück auf der Spur und engagiert sich im Umweltschutz.

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