Der Dalai Lama
„Alles ist voneinander abhängig, nichts steht für sich allein. Sobald ich morgens aufwache, denke ich darüber nach“ sagt der Dalai Lama in seinem Beitrag vom Juni 2020. Er schreibt über seine drei Lebensaufgaben und appelliert, sich mehr auf das Ganze auszurichten, statt Eigeninteressen zu folgen.
Jedes Lebewesen möchte Glück und kein Leid erleben. Und doch nutzen wir Menschen oft unsere Intelligenz, um negativen Emotionen wie Wut und Gier zu dienen. Dadurch verursachen wir Probleme, Leiden und Gewalt und – und zwar nicht nur unter den Menschen, sondern auf dem gesamten Planeten, für Tiere und Pflanzen. Wir reden zwar viel von Frieden. Aber echter Frieden hängt von uns selbst ab. Statt aber Frieden zu suchen, sind wir engstirnig und denken immer nur: „Ich, Ich, Ich“.
In der Welt hat es Fortschritte gegeben. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Vereinten Nationen gegründet, eine Organisation für die ganze Welt. Die UNO kümmert sich um Regionen und Länder, in denen die Menschen mit vielen Problemen und Schwierigkeiten konfrontiert sind.
In Europa ist, anstatt nur in der Kategorie von Nation zu denken, die Europäische Union gegründet worden. Früher gab es Kriege zwischen den europäischen Nachbarn, aber seitdem keine militärischen Auseinandersetzungen mehr. Auch in Indien hat es in der Vergangenheit Königreiche gegeben, die einander bekämpft haben. Die Gründung der Indischen Union brachte mehr Frieden.
Es gibt sieben Milliarden Menschen, und wir alle leben auf diesem einen Planeten. Wir müssen solidarisch sein, ob in guten oder schlechten Tagen. Wir brauchen das Gefühl der Einheit der Menschen. Wenn man ins All reist, sieht man, dass es keine physischen Grenzen zwischen den Ländern gibt.
Deshalb ist es überholt, nur an die eigenen Bedürfnisse zu denken. Wenn Sie in einer Gemeinschaft, einer Familie leben und freundlich miteinander umgehen, können Sie sicher sein, dass die anderen Sie unterstützen werden. Auf der anderen Seite verursacht das gewohnheitsmäßige Denken „ich, meine Familie, meine Gemeinschaft, meine Nation“ viele Probleme. Als Gegengewicht ist es sehr wichtig, die Einheit der Menschheit zu verstehen.
„Meine drei Lebensaufgaben“
Ich habe mir drei Lebensaufgaben gestellt: Erstens die Verbreitung von menschlichen Werten und einer säkulären Ethik, unabhängig von Religion, zweitens die Förderung der Harmonie unter den Religionen und drittens der Einsatz für Tibet und den Erhalt der tibetischen Kultur.
Mit meiner ersten Lebensaufgabe, dem Werben für menschliche Werte, möchte ich den sieben Milliarden Menschen dienen. Jedes einzelne Lebewesen, auch die kleinsten Insekten, möchte glücklich sein und Leiden vermeiden. Doch wir müssen wissen, wie Leiden entsteht und innerer Frieden entwickelt werden kann.
Wir befinden uns heute in einer emotionalen Krise. Wir werden von unseren Emotionen hin- und hergeworfen und erleben eine Menge negativer Emotionen wie Gier, Hass und Wut. Diese müssen wir angehen, sind sie doch die Ursache vieler Probleme.
Die Menschen haben ihre Intelligenz genutzt, um hilfreiche Technologien, aber auch Waffen zu entwickeln. Doch niemand kann mit Waffen wirklich gewinnen. Tatsache ist: Wir müssen zusammenleben, wir können die äußeren Feinde niemals vernichten. Der Dialog ist der einzige Weg. Doch für den Dialog brauchen wir die innere Abrüstung. Auf der Grundlage von Liebe und Mitgefühl werden wir Frieden in uns selbst erreichen.
Die Welt braucht Mitgefühl
Warum können wir Liebe und Mitgefühl entwickeln? Weil diese Eigenschaften zu unserer Natur gehören und entscheidend für unser Überleben sind. Ein Baby, das vernachlässigt wird, kann nicht überleben. Auch Tiere brauchen Pflege und Schutz und auch unter ihnen gibt es diese Liebe. Sie ist grundlegend für unser Überleben, wir brauchen die Liebe und die Fürsorge für einander. Denn als Individuen sind wir auf die Gesellschaft angewiesen. Wie erfolgreich und leistungsfähig ein einzelner Mensch auch sein mag, er braucht andere Menschen, die Gemeinschaft. Wir Menschen sind soziale Wesen.
In der Vergangenheit lebten die Menschen in kleinen Gemeinschaften und in Subsistenzwirtschaft. Aber heute sehen wir die Verwobenheit, vor allem wenn wir Wirtschaft und Umwelt betrachten: Wenn irgendwo auf der Welt die Umwelt zerstört wird, so betrifft es die ganze Welt. Im Gefühl der Einheit der Menschen müssen wir Verantwortung für den Umweltschutz übernehmen. Denken Sie weniger „Ich, meine Nation“, denken Sie global.
All unsere Probleme wurzeln in einem undisziplinierten Geist, in unreflektierten, negativen Emotionen. Leider haben wir der in uns liegenden positiven Qualität von Liebe und Mitgefühl zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Deshalb haften wir einseitig an Verwandten und Freunden und erleben Aggression und Hass gegenüber Menschen, die wir als Feinde ansehen. Diese geistigen Emotionen stören unseren inneren Frieden.
Alles ist voneinander abhängig, nichts steht für sich allein. Sobald ich morgens aufwache, denke ich darüber nach. Und ich meditiere über Mitgefühl. Die Haltung der Selbstsucht erzeugt Leiden. Andere mehr zu schätzen als nur sich selbst, bringt Glück.
Alles Leid in der Welt kommt daher, dass man nur sein eigenes egoistisches Glück wünscht. Alles Glück in dieser Welt entsteht aus dem empathischen Wunsch, dass man anderen Glück wünscht. Daher ist es gut, gedanklich das eigene Glück an die anderen wegzugeben.
Im 21. Jahrhundert haben wir enorme Fortschritte im Hinblick auf die materielle Entwicklung gemacht. Jetzt ist es unsere Aufgabe, stärker auch auf die innere Welt des Geistes zu achten. Das hat nichts mit religiösem Glauben zu tun, sondern es geht um unsere innere Gesundheit. Glück und innerer Frieden kann nicht durch Technik oder Maschinen erzeugt werden. Der einzige Weg zu dauerhaftem Glück besteht darin, Frieden in uns zu schaffen.
Religionen: Das Gemeinsame betonen
Als Buddhist sehe ich meine zweite Lebensaufgabe darin, zur Harmonie unter den Religionen beizutragen. Es gibt viele religiöse Traditionen in der Welt, aber alle lehren die gleiche Botschaft der Liebe und des Mitgefühls, trotz unterschiedlicher Weltsichten und Philosophien. Die Hauptbotschaft ist Liebe. Deshalb gibt es eine reale Grundlage für religiöse Harmonie.
Es ist gut, eine Vielzahl von religiösen Traditionen zu haben, denn diese dienen den unterschiedlichen Bedürfnissen der Menschen. Das ist vergleichbar mit dem Essen: Wenn es weltweit nur ein Gericht gäbe, so wäre das nicht attraktiv. Man braucht Vielfalt. Wenn es nur eine einzige Religion gibt, so wäre das zu wenig.
In der Vergangenheit hatten wir viele Konflikte und Kriege zwischen den Religionen, aber diese gingen immer von politischen Interessen aus. Könige und Großgrundbesitzer nutzten die Religion als Mittel zur Bereicherung. Alle religiösen Traditionen sind Religionen von Menschen. Auch weltanschauliche und historische Unterschiede waren die Ursache für Kämpfe und Gewalt. Deshalb sollten wir als religiöse Menschen uns nicht auf die Unterschiede, sondern auf die Gemeinsamkeiten konzentrieren. Religiöse Harmonie ist möglich: Betrachten Sie Indien als ein Beispiel. In den letzten 3.000 Jahren hat es auf dem indischen Subkontinent viele religiöse Traditionen gegeben, die koexistierten, wie vielfältige hinduistische Strömungen, Islam, Christentum usw..
Die tibetische Kultur bewahren
Als Tibeter ist meine dritte Lebensaufgabe, zur Bewahrung der tibetischen Kultur beizutragen. Ich habe als Dalai Lama Verantwortung für Tibet, obwohl ich mich vor vielen Jahren aus den politischen Ämtern der Exilregierung zurückgezogen habe. Dies geschah bewusst und geplant, weil wir schon in den ersten Jahren nach unserer Flucht im indischen Exil begonnen haben, eine Demokratie zu errichten. Mittlerweile werden das Exilparlament und Unsere politischen Führer demokratisch gewählt.
Die tibetische Kultur ist kostbar. Im 7. Jahrhundert wurde die tibetische Schrift eingeführt. Im 8. Jahrhundert breitete sich die Sanskrit-Überlieferung des indischen Buddhismus in Tibet aus, insbesondere die Tradition der Klosteruniversität Nalanda, deren Merkmal es ist, auf dem spirituellen Weg intensiv die Vernunft und die Logik zu gebrauchen. Ich betrachte es als meine Aufgabe, diese einzigartige Tradition zu bewahren.
Auch halte ich es für wichtig, die indische Tradition der Gewaltlosigkeit, die auf der Praxis der Liebe und des Mitgefühls beruht, zu bewahren. Mahatma Gandhi setzte auch in seinem politischen Handeln ganz auf die alte indische Idee der Gewaltlosigkeit und verbreitete sie damit nicht nur in Indien. Die moderne Erziehung, die von den Briten eingeführt wurde, vernachlässigt die alten indischen Wurzeln der Erziehung. Wenn wir das Wissen dieser alten Psychologie herausarbeiten, dieses von den rein religiösen Aspekten trennen und es in einem säkularen Ansatz zur modernen Erziehung hinzufügen, wäre dies nach meiner Übersetzung eine wichtige Ergänzung zu unserem aktuellem Bildungssystem, das sonst zu einseitig auf bloße Wissensvermittlung und zu wenig auf die Entwicklung emotionaler und sozialer Kompetenzen ausgerichtet ist.
Es wäre wunderbar, unser altes Wissen über die Emotionen wieder aufleben zu lassen, um den Menschen heute damit zu helfen. Daher empfinde ich es als eine Verpflichtung, die alte indische Weisheitstradition zu bewahren und zu fördern.
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