Interview mit Achtsamkeitslehrer James Baraz
Wie kann man Freude in eine Welt bringen, die von so viel Menschen-gemachtem Leid angefüllt ist? Und darf man sich überhaupt freuen? Diese Fragen beschäftigen den Achtsamkeitslehrer James Baraz. Im Interview ermuntert er dazu, das Schöne und Gute zu nähren, gerade auch in Krisen. Freude als Teil der Achtsamkeit kann heilsame Potenziale im Menschen wecken.
Das Gespräch führte Sabine Jaenicke
Frage: Hallo James! Danke, dass Sie Ihre Zeit mit uns teilen. Sie sind der Autor des Buches “Awakening Joy” und geben Kurse zu diesem Thema. Warum ist Freude so wichtig?
Baraz: Bei so viel Leid in der Welt kann sich der Geist natürlich ganz leicht auf das fixieren, was falsch ist. Dieser negative Bestätigungseffekt ist tief in unserem Gehirn verankert und veranlasst uns, nach Gefahren zu suchen. Aber wie die Taoisten sagen, besteht diese Welt aus 10.000 Freuden und 10.000 Leiden.
Wer sich nur auf die Sorgen richtet, verpasst nicht nur das Gesamtbild, sondern wird auch selbst negativ und düster. Es bedarf einiger Übung, um auf natürliche Weise all das Gute und Schöne im Leben wahrzunehmen. Aber es ist möglich, den Geist auf diese Weise zu trainieren.
Freude ist in der Achtsamkeitspraxis sehr wichtig. Warum?
Baraz: Freude entsteht ganz natürlich aus der Achtsamkeit. Wenn Sie sich wirklich für etwas interessieren, seien es die Vögel im Garten, die Schönheit der Natur oder sogar etwas so scheinbar Alltägliches wie den Atem, führt diese erhöhte Aufmerksamkeit zu einem Gefühl tiefer Verbundenheit und Lebendigkeit, zu einem natürlichen Gefühl von Freude.
Es gibt viele Varianten davon, z.B. Zufriedenheit, Wohlbefinden, Leichtigkeit, Ruhe, Frieden. Wenn wir eine Haltung von interessierter Neugier einnehmen können – ein kindliches Staunen, das vom Augenblick fasziniert ist – wird alles lebendiger. Die Praxis macht mehr Spaß, selbst wenn das, was wir betrachten, unangenehm ist.
Wenn wir die Verzweiflung stärken, ist der Welt nicht gedient.
Ich erinnere mich an zwei ganz besondere Episoden, bei denen ich viel gelernt habe. Einmal sind wir gemeinsam mit dem Auto zu einem Retreat gefahren und haben zu viert drei Stunden lang Beatles-Songs gesungen. Pure Freude. Das andere Mal hatten Sie starke Zahnschmerzen und haben ein fröhliches Lied gesungen. Es scheint, dass die Freude Ihr ganzes Wesen durchdrungen hat.
Baraz: Oft haben wir mehr Wahlmöglichkeiten, als uns bewusst ist, um dem Augenblick zu begegnen. Und ich liebe es zu singen und mich an dem Guten um mich herum zu erfreuen. Ein Hauptprinzip dabei lautet: “Verpasse das Gute und Schöne nicht!” Nimm es achtsam wahr und spüre, wie es dich nährt.
Ich kann jedoch nicht behaupten, dass ich immer fröhlich bin. Echtes Glück bedeutet nicht, immer glücklich zu sein. Es gibt Verluste und Sorgen, Wut und Frustration. Das alles gehört zum Menschsein. Und all diese Emotionen müssen gewürdigt und anerkannt werden, wenn sie auftauchen. Doch wer glücklich ist, lässt sich nicht von dem unvermeidlichen Leiden im Leben überwältigen.
Ist es in Ordnung, sich in einer krisengeschüttelten Welt zu freuen, während andere leiden?
Baraz: In den letzten Jahren beschäftige ich mich viel mit der Frage, wie man Freude in eine Welt bringen kann, die von so viel menschen-verursachtem Leid erfüllt ist. Ich engagiere mich sehr im Bereich des Klimawandels.
Als mir das ganze Ausmaß dieser Krise bewusst wurde, wusste ich nicht, was ich tun sollte. Ein Freund, der Klimamanager des World Wildlife Fund ist, antwortete: “James, Freude ist vielleicht eines der wichtigsten Dinge, an die wir uns inmitten all dessen erinnern müssen.”
In dieser Zeit brauchen wir alle Freude. Wenn wir Depressionen und Verzweiflung noch verstärken, ist der Welt nicht gedient. Wir kümmern uns um das, was wir lieben. Unter jeder Wut, Empörung oder Verzweiflung, die wir empfinden, steckt eine tiefe Fürsorge. Und die Quelle dieser Fürsorge ist Liebe.
Wenn wir berührt sind, können wir mitfühlend handeln.
Wut und Empörung sind doch ganz natürliche Reaktionen …
Baraz: Wut und Empörung sind wichtig, sie können uns zum Handeln motivieren. Aber sie sind nicht nachhaltig. Man wird entmutigt oder ausgebrannt, wenn man mit der Realität kämpft. Je mehr wir uns mit Dankbarkeit und Freude für das Gute im Leben öffnen können, desto mehr werden unsere guten Handlungen anregend und sogar ansteckend sein.
Was auch immer unser Herz berührt, kann ein Tor zu mitfühlendem Handeln sein. Entscheidend ist, nicht in diesen negativen Gefühlen stecken zu bleiben, sondern aus freudiger Verantwortung auf das zu reagieren, was uns bewegt.
Aber wie machen wir das, wenn wir in unserem eigenen Leben viel Leid erfahren?
Baraz: Wichtig ist, das Leid, das wir erfahren, nicht zu leugnen. Gleichzeitig dürfen wir uns davon nicht überwältigen lassen. Das bedeutet nicht, dass wir glücklich sein müssen, wenn wir trauern oder Schmerzen haben.
Doch wir können lernen, dem Schmerz mit Mitgefühl zu begegnen. Das bringt eine gewisse Zärtlichkeit in das verkrampfte Herz, die unseren Panzer weicher werden lässt. Wir beginnen, dem Leiden mit Freundlichkeit zu begegnen, anstatt davor wegzulaufen. Es gibt ein Sprichwort aus dem Programm für achtsames Selbstmitgefühl, das mir gefällt: “Feel it and you heal it. Fühle es und du heilst es.”
Mit der Zeit lässt sich unter dem Schmerz das entdecken, was die buddhistische Lehrerin Pema Chödrön “den weichen Punkt” nennt. Wir können anfangen zu sehen, dass unser Schmerz nicht so unveränderbar ist, wie die Negativität uns weismachen will.
Diese kleinen aufbauenden Momente geben uns eine direkte Erfahrung der unbeständigen Natur des Leidens. Wenn wir uns zum Beispiel am Lachen von Kindern erfreuen, sind wir für ein paar Augenblicke nicht inmitten unseres Kummers.
Freude kann das Gute in uns und anderen wecken
Kann Freude zu einer besseren Welt beitragen?
Baraz: Ja. Liebe, Fürsorge und die Gaben, die uns das Leben geschenkt hat, können umso mehr durch uns hindurchscheinen, je mehr Freude wir in uns selbst finden. Das weckt das Gute in uns und in anderen.
Wenn die Freude unerreichbar weit weg zu sein scheint – haben Sie eine Instant-Lösung?
Baraz: Ich würde sagen, dass Dankbarkeit wahrscheinlich das effektivste und schnellste Mittel ist. Mit einem Gefühl der Wertschätzung wahrzunehmen, was in diesem Moment gut ist, kann unsere Realität verändern. Schon die Tatsache, dass wir am Leben sind, dass wir mit einem Körper, einem Geist und einem Herzen ausgestattet sind, die das Leben erfahren können, ist ein unglaubliches Wunder. Wir sollten es nicht verpassen!
Herzlichen Dank für das Gespräch!
James Baraz, seit 1978 Meditationslehrer, gründete zusammen mit Jack Kornfield das Meditationszentrum Spirit Rock in Kalifornien. Er gibt jedes Jahr ein Meditations-Retreat in Deutschland, ebenso einen Onlinekurs „Freude wecken“ mit deutscher Übersetzung – beides zu finden unter www.arbor-seminare.de
Die Fragen stellte Sabine Jaenicke. Sie ist Programmleiterin des Bereichs „Bewusst leben“ beim Droemer Knaur Verlag, unterrichtet Achtsamkeit und Meditation und gibt Retreats für Frauen.