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Wir brauchen Gemeinschaft

Westend61 / photocase
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Warum wir ohne Gemeinsinn nicht überleben würden

Gemeinsinn und Eigensinn sind zwei Pole des menschlichen Daseins. Doch eine Gesellschaft, die auf die Maximierung des Eigennutzes setzt, ist nicht überlebensfähig. Wir brauchen Gemeinschaft, um zu leben. Geseko von Lüpke hat Menschen und Initiativen aufgesucht, die sich für das Gemeinwohl engagieren und das Individuum achten.

Gemeinsinn ist ein großes Wort, inflationär genutzt in politischen Reden aller Parteien und Ideologien. Und gerade deshalb ein Begriff von enormer Unschärfe, weil er in so vielen Kontexten beliebig benutzt wird und wie eine Leerformel mit beliebigem Inhalt gefüllt wird.

Doch der Begriff hat Sinn und Tiefe: Beim Gemeinsinn geht es um den Kitt, der die Gesellschaft und damit die soziale Gemeinschaft in schwierigen Zeiten zusammenhält.

Die Bedeutung des Begriffs hat sich häufig gewandelt. Schon Aristoteles und Plato betonten den Vorteil des Gemeinsinns gegenüber dem Eigennutz. Und die römische Philosophie diskutierte als ‘sensus communis’ den Versuch, dem Egoismus eine Verantwortung für das Kollektiv entgegenzusetzen.

Jean-Jacques Rousseau brachte den ‘volonté generale’, den Gemeinwillen, ins Spiel, der aus jedem Einzelnen kommen müsse. Mit der Früh-Industrialisierung änderte sich das Weltbild schlagartig. Der Solidarität und Kooperation setzte man die Konkurrenz entgegen.

Im Kaiserreich und im Nationalsozialismus wurde das Indiviuum gezwungen, sich der „Gemeinschaft“ zu unterwerfen: „Du bist nichts! Dein Volk ist alles!“ – mit all den furchtbaren Folgen.

Im real existierenden Sozialismus und anderen totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts sah es nicht besser aus. Man pochte auf das Kollektiv, um seine Macht auf brutale Weise zu demonstrieren.

Im Westen der Nachkriegszeit wiederum rückte man ab vom erzwungenen Kollektiv und betonte die individuelle Selbstverwirklichung. Der Gemeinsinn galt hier lange Zeit als antiquiert.

“Nur durch Gemeinschaft kann ich leben”

Erst seit zwei Jahrzehnten besann man sich wieder auf das alte Wort und versuchte es aktuell neu zu definieren. Wolfgang Fänderl, Münchner Sozialforscher und Autor forscht am Gemeinsinn und versucht eine zeitgenössische Definition:

„Für mich ist der Kern-Gedanke von Gemeinsinn immer ein Teil des individuellen Wohlergehens. Gemeinsinn brauche ich als Individuum, weil nur durch die Gemeinschaft kann ich leben.

Diese Art von Gemeinsinn ist stark geprägt von einem klar umgrenzten Wir-Gefühl. Das Schöne am Gemeinsinn-Begriff ist auch diese emotionale Komponente: Also dieses Gefühl, ich gehöre wo dazu, ich möchte etwas tun.“ (Beteiligung über das Reden hinaus. Gemeinsinn-Werkstatt: Materialien zur Entwicklung von Netzwerken. Gütersloh 2006)

So gesehen, wäre Gemeinsinn in einer inneren Haltung gegründet, die zu solidarischem Handeln führt. Im besten Fall ist es so etwas wie eine kollektive Weisheit, die aus der Mitwirkung aller entstehen kann. Sie ist mehr als die Summe individueller Leistung und Brillanz – aus ihr entsteht eine gemeinsame soziale Identität.

Wenn der Eigensinn den Ton angibt

Und doch ist der Gemeinsinn zugleich ein Paradox, ein Gegenentwurf und Fremdkörper in einer globalisierten Gesellschaft, in der eigentlich der Eigensinn den Ton angibt: Die ewige Konkurrenz um den ersten Platz, das schönste Haus, den besten Ruf, Macht und Geld.

Nach Gemeinsinn wird gerufen, wenn der eigensinnige Hedonismus Überhand bekommt, wenn Minderheiten und Schwache abgehängt werden. Oder wenn die staatlichen Institutionen, die ja irgendwie das Gemeinwohl im kapitalistischen Konkurrenz-System organisieren sollen, es alleine nicht schaffen und die Bereitschaft aller brauchen – in Flüchtlingskrisen, Ressourcenmangel, Zeiten der Not.

Gemeinsinn und Eigensinn sind dabei wie ständige Rivalen, wobei der Eigensinn in der Gegenwart immer einen Schritt voraus ist und die Solidarität meist hinterherhinkt.

Gemeinsinn in anderen Kulturen

Aus der wohl ältesten Kultur der Menschheit, den Buschleuten der KoiSan in Südafrika, Botswana und Namibia, entwickelte sich über die Menschheitsgeschichte eine Philosophie des Gemeinsinns, die unter dem Motto ‘Ich bin, weil Du bist’ bis heute als ‘Ubuntu’ das soziale Leben prägt. Diese solidarische Grundhaltung half Südafrika die Tragödie der Apartheid zu überwinden.

Auch in vielen anderen indigenen Kulturen dominierte eher der Gemeinsinn. Bei den vorkolumbianischen südamerikanischen Hochkulturen nannte man es ‘Sumach Kausai’, auf Deutsch ‚gut zusammen leben‘, erklärt der ecuadorianische Sozialwissenschaftler indianischer Herkunft und Pionier der sozialen Bewegung des südamerikanischen Gemeinsinns ‘Buen vivir’, German Muruchi Poma:

„Wir sehen durch das Treiben der westlichen Kultur, dass das Leben in seinem Gleichgewicht verloren geht. Und wir machen aufmerksam, dass wir wieder zu dem Gleichgewicht kommen müssen.“ Gemeinsinn, so der indigene Ratschlag, sei für eine nachhaltige Zukunft unverzichtbar.

Im Buddhismus prägt das Ideal der Sangha den Gedanken des Gemeinsinns – als einer spirituellen Gemeinschaft jener, die den Egoismus überwunden haben und gemeinsam auf dem Weg der Erleuchtung sind. Der Himalaya-Staat Bhutan hat diesen Gemeinsinn zur staatstragenden Grundlage des Strebens nach dem kollektiven Brutto-Nationalglück gemacht, dass Egoismus und den reinen materiellen Gewinn weniger wichtig nimmt.

Deutlich wird bei diesen Beispielen, dass am Beginn der menschlichen Sozialorganisation kulturübergreifend offenbar der Wille zur Zusammenarbeit steht und die Gewissheit, dass die einzelne Person ohne Partnerschaft, Konsens und den Gemeinsinn in einer Gruppe oder Gemeinschaft gar nicht überleben kann. Ja, fast scheint es, als wäre der Gemeinsinn das Normale und eine Welt des Eigensinns die abwegige Ausnahme.

Ein System, das auf Konkurrenz beruht, schadet Mensch und Natur

Im Westen waren es Ende der 1980er Jahre der Wirtschafts-wissenschaftler Herman Daly und der Theologe James B. Cobb, die eine Ökonomie des ‘Common Good’ vorschlugen, in dessen Zentrum Gemeinsinn, Umweltschutz und Nachhaltigkeit stehen.

2010 entstand um den Vordenker Christian Felber die Initiative der ‘Gemeinwohl-Ökonomie’, der sich zahlreiche Unternehmen anschlossen: „So wie das derzeitige Wirtschafssystem auf den Werten Egoismus, Eigennutzmaximierung, Konkurrenz und grenzenloses Wachstum beruht, so könnte man genauso gut ein Wirtschaftssystem anders konstruieren und kulturell einbetten und auf ein anderes Wertefundament stellen:

Nämlich dass Erfolg nicht mehr in Geld, sondern in Nutzwerten gemessen wird, in sinnvoller Güterherstellung, in Bedürfnisbefriedigung, in Verteilungsgerechtigkeit, in Gelingen der Beziehung zwischen Menschen sowie zwischen Mensch und Natur. Und dass wir diese Leistungen versuchen kooperativ zu erbringen und durch die Voranstellung des Allgemeinwohls.“ Die Bewegung, die solche humanen Grundwerte mit Gemeinwohlbilanzen prüft, wächst langsam und kontinuierlich.

Gemeinsinn muss erkämpft werden

Heute sorgen engagierte Initiativen der Zivilgesellschaft dafür, dass der Gedanke des Gemeinsinns gestärkt wird: Bürgerinitiativen und soziale wie ökologische Projekte: Repair-Cafes, Baugruppen, genossenschaftliche Einrichtungen, Lebensmittel-Kooperativen gehören ebenso dazu wie Bürger-Netzwerke solidarischer Landwirtschaft oder Tauschringe. Solcherart Experimente gibt es weltweit und bereits im großen Maßstab.

In Argentinien gibt es Tauschringe mit 1,7 Millionen Mitgliedern, in Südkorea solidarische Landwirtschaft, die knapp zwei Millionen Menschen versorgt, in Japan Genossenschaften mit mehr als 2.000 Einzelunternehmen für Millionen von Konsumenten. Da geht es um weit mehr als nur Nachbarschafts-Initiativen. In Zeiten der Globalisierung muss auch Gemeinsinn wieder neu definiert und auf die ganze globale Menschheitsfamilie übertragen werden.

Dabei muss Gemeinsinn erkämpft werden, glaubt der brasilianische Sozialreformer und alternative Nobelpreisträger Chico Wittaker, der mit dem ‘Weltsozialforum’ weltweite zivilgesellschaftliche Initiativen für Gemeinwohl zu einer machtvollen Koalition zusammenschweißte:

“Bleiben wir als Individuen isoliert, sind wir immer absolut machtlos. Wir müssen uns zu dem politischen Akteur organisieren, den man heute die Zivilgesellschaft nennt. Dort kann man dann gegen die Machtpyramiden in horizontalen Netzwerken arbeiten, wo jeder verantwortlich ist und Initiative übernimmt. Das gilt umso mehr für Probleme, die nicht warten können. Da muss jetzt gehandelt werden.“

Transition Towns sind Vorbilder für den Wandel

Ein starker Impuls für neue Formen des Zusammenlebens und -wirtschaftens geht von der Transition Town-Bewegung aus. Sie erproben Gemeinsinn ganz praktisch an dere Basis. Professor Niko Paech, Volkswirt und Vordenker einer Post-Wachstumsgesellschaft, sagt dazu:

„Man kann die Bedeutung dieser Transition Towns gar nicht überschätzen. Wir haben hier einen richtigen Perspektivwechsel im Nachhaltigkeitsdiskurs. Hier ist ein anderer Grundstoff der Motor: Und das ist der Mensch vor Ort selbst, der durch seinen Lebensstil und der durch das soziale Eingebundensein, durch die Wiederentdeckung des Gemeinwesens die Leistung erbringt.“

Die Transition Town-Bewegung setzt nicht auf technischen, sondern auf kulturellen Wandel und damit ein neues Weltbild, das dem der Konkurrenz entgegensteht.

So verstanden, wird der Gemeinsinn zu einem gesellschaftlichen Gegenentwurf. Der könnte lauten: Neid, Konkurrenz und der Kampf jeder gegen jeden gehören nicht zur evolutionären Grundausstattung des Menschen und sind auch nicht in seinen Genen angelegt. Es ist unsere angeborene Fähigkeit zu Gemeinsinn und Kooperation, die stärker ins Zentrum unseres Handelns rücken sollte.

Geseko von Lüpke ist freier Journalist und Autor von Publikationen über Naturwissenschaft, nachhaltige Zukunftsgestaltung und ökologische Ethik.

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