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Wir können Krise

eelnosiva/ shutterstock
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Ein Denkanstoß von Steve Heitzer

„Ich kann klagen, habe mich aber dagegen entschieden“, sagt Steve Heitzer. Er ist selbstständig mit geringen Einkünften, seine Töchter können nicht zur Schule, die Corona-Krise zerrt an den Nerven. Doch Hadern und Jammern helfen nicht weiter. „Wir brauchen keine Schuldigen“, sondern Akzeptanz für unsere Gefühle und Klarheit für das, was zu tun ist.

Als hätte jemand den globalen Ameisenhaufen Erde unter Wasser gesetzt: Alles schwimmt. Orientierung ist schwer, untergehen in der Verunsicherung ist leicht. Aber wir können Krise. Dies ist eine gute Zeit, mit sich selbst in Kontakt zu kommen und die Krise von innen her anzugehen.

Kürzlich beim Bäcker – vor`m Bäcker, natürlich mit Corona-Abstand, fragt mich eine Nachbarin, Künstlerin und freiberuflich wie ich: Wie geht‘s dir mit der Arbeit? – Ich ringe um eine Antwort: „Ich kann (nicht) klagen … “.

Es ist die Zeit des Haderns. Big small talk des Haderns. Noch deutlicher wurde mir das beim Gespräch mit einem Handwerker, einem gebildeten Mann, aber immer wieder dieses diffuse Misstrauen gegenüber Politik, Wirtschaft, Behörden. Ich war durchaus empfänglich und echauffierte mich über einen Investor, der sich in unserer Nähe einen monströsen Palast bauen lässt. Ich heulte mit.

Aber danach ging es mir nicht besser. Im Gegenteil: Ich merkte, wie dieses Misstrauen und Schimpfen gegen „die da oben“ nur scheinbar Erleichterung bringt; was aber bleibt, ist Verunsicherung. Und die war ja eigentlich schon vorher da.

Meine Beobachtung: In der ganzen Debatte um Corona, um die Maßnahmen und das, was schief läuft, um Demos, Experten und Politik macht sich ein vielstimmiger Chor des Klagens und Haderns Luft, dessen Ursache wohl schlicht eine gewaltige Verunsicherung ist, oder besser gesagt: ein Nicht-Wissen.

Unsere Ohnmacht, unser aller Nicht-Wissen, was wirklich Sache ist und wie es weiter geht, verbreitet diffuse Angst und macht gereizt. Ein unterschwelliger bis manchmal offen negativer Strom des Haderns hat uns erfasst.

Hadern bringt nur scheinbar Erleichterung, aber es schwächt uns und strahlt aus, ist ansteckend wie das Virus. Hadern wirkt, aber es wirkt uns entgegen. Wir sind oft nicht gerade gut darin, klar zu unterscheiden, was wir wie und wann verändern können einerseits, und wie wir uns im Akzeptieren üben können andererseits.

Wir können akzeptieren

Ich bin ehrlich. Manchmal spüre ich jetzt im neuerlichen Lockdown Bedrängnis und Beklemmung – mehr als ich mir im Kopf eingestehen mag. Mein Körper weiß es: Manchmal fühlt es sich so an, als ob ein großer Stein auf meiner Brust liegen würde. Manchmal meldet sich die Angst, auch selbst zu erkranken.

Seit Wochen immer wieder mal Halsweh, Niedergeschlagenheit, Kraftlosigkeit. Immerhin kein Husten und kein Fieber, aber weiß man‘s? Und die Sorge um meine Frau, die als Lehrerin arbeitet, Sorge um unsere älter werdenden Eltern. Um die Freunde, die selbst Sorgen haben: Krankheit, depressive Stimmungen, ein schwer krankes Kind. Werden sie es durch diese Krise schaffen?

Ich merke, es tut gut, wirklich in Kontakt zu kommen mit meiner Frustration und den Sorgen. Mit meiner Gereiztheit und dem Hadern. Es ist so wichtig jetzt, all diese Regungen zu bemerken, zu beobachten, zu verstehen – und sie liebevoll in den Arm zu nehmen. Wenn nicht, treiben sie ihr Unwesen; machen sie uns zu Getriebenen; verleiten uns leicht im Kopf dazu, Geschichten zu erzählen. Wir springen auf Narrative an, die alles einfach machen, zu einfach.

Bei den Weisen lernen wir: Wenn wir nichts mehr tun können, haben wir doch immer die Wahl, ob wir Widerstand leisten gegen das, was ist, oder uns in Akzeptanz und Hingabe üben. Bewusst Ja zu sagen, wo wir unausgesprochen oft unbewusst Nein sagen und Negativität verbreiten – in uns selbst und in unserem Umfeld.

Wie wäre es, wenn wir uns hingeben? Hingabe heißt nicht, dass wir uns nicht mehr rühren sollen, dass wir mit allem einverstanden wären und keinerlei Anstalten machen, unsere Situation zu verbessern. Hingabe ist ein tiefergehendes Einverständnis mit dem „Sosein“ des Augenblicks.

Das hindert nicht daran, gleichzeitig hellwach zu schauen, was passiert. Im Gegenteil: Wenn wir aus dem automatischen Kampf- und Widerstandsmodus aussteigen, werden Kopf und Herz frei. Wer hellwach ist, wird auch wissen, was zu tun ist und was ggf. auch verändert werden kann.

Dann können wir klar überlegen: Wie viele „Kollateralschaden“ an Leib und Seele können wir etwa unseren Kindern und Jugendlichen und damit der Zukunft unserer Gesellschaft noch zumuten? Wie viel Geld müssen wir in einer Zeit, die Milliarden verschlingt, in militärische „Sicherheit“ und die Erhaltung von Wirtschaftszweigen pumpen, die einfach nicht mehr nachhaltig sind?

Wir brauchen keinen Schuldigen

Hingabe löst eine Verstrickung in den üblichen Kampf-Modus auf der Basis einer grundsätzlichen Akzeptanz unserer Realität, ohne Augen und Mund davor zu verschließen, notwendige Veränderungen zu sehen, zu leben und politisch einzufordern.

Wie wäre es, unsere Frustration zuzugeben? Eine vielleicht schon chronische Gereiztheit? Und dahinter unsere Angst aufzuspüren, Verunsicherung, Traurigkeit, Erschöpfung? Wie wäre es, wenn plötzlich Tränen fließen dürfen, weil wir merken, wir kommen an unsere Grenzen, blicken langsam nicht mehr durch und kommen nicht mehr nach mit den ständigen Veränderungen, Verschärfungen und Bedrohungen – auch angesichts der Polarisierung in der Gesellschaft?

Und erkennen: Wir brauchen keine Schuldigen dafür. Wir verstehen vieles nicht. Wir werden vieles auch nie ganz verhindern oder „wegmachen“ können − schon gar nicht die Pandemie. Natürlich gibt es Verantwortliche, die auch Fehler machen. Wie könnte man derzeit keine Fehler machen? Aber wir brauchen keine Sündenböcke, und wir brauchen keine Feinde. Wir hören auf zu kämpfen – auch gegen uns selbst.

Jetzt ist die Zeit und die Chance, Verantwortung für unser Leben zu übernehmen. Gelegenheit, unsere spirituelle Praxis als Zuflucht und Übung zu verstehen, die weit über Wellness hinausgeht. Jetzt gilt es, und jetzt ist es leicht (weil ganz an der Oberfläche), unsere Negativität im Inneren zu erkennen und damit auch die wachsende Negativität und Aggression im außen zu verstehen. Echte Hingabe entgiftet unsere diffuse Negativität gegen unser Umfeld und uns selbst gegenüber.

Wir können klagen, wir können hadern, wir können jammern. Die Pandemie ist ein wunderbarer Dauerbrenner dafür im Außen. Hilfreicher ist zu erkennen, was tief in uns selbst los ist.

Mit unserer Ohnmacht in Kontakt kommen, statt zu kämpfen und Widerstand zu leisten gegen das, was ist. Und uns anfreunden mit einer Übung, die unserem Machen-Wollen zuwiderläuft, und dennoch innerlich frei macht und ermächtigt. Wir können Hingabe, wir können Krise, erster Teil der Übung.

Ich kann Haushalt, ich kann Website, ich kann Autor

Zurück zum Bäcker: So small der Talk war, es ging noch einen Satz weiter. Seit einem Jahr steht meine Erwerbs-Arbeit als Freiberufler so gut wie still. Meine pädagogische Arbeit aus anderen Gründen schon vor Corona, seit März meine Seminartätigkeit. „Ich kann klagen …“ Und ich fügte hinzu: „Aber ich habe mich immer öfter dagegen entschieden.“

Immer, wenn es mir gelingt, es zu akzeptieren, entsteht Raum für andere wichtige Dinge:

Ich kann Haushalt – viel mehr als vorher. Und ich bekam geschenkte Zeit mit meinen beiden Töchtern, die nun “Schule zuhause” können….

Ich kann Webseite – ich konnte mich endlich darauf einlassen, meine eigene Webseite zu machen.

Ich kann Autor – ich musste zwar auch hier einen Dämpfer einstecken, aber ich blieb dran, wechselte immer wieder auch das Gebiet.

Früher entfuhr mir mal bei einem ähnlichen Small-Talk der Satz: „Ich tu jetzt einfach mal so, als würde ich das Leben eines Autors führen.“ Und beim Bäcker neulich warf ich bei der Künstlerin noch ein: „Momentan fühlt es sich so an wie das Leben eines Künstlers mit viel Raum. Ich gehe jetzt auch viel in die Stille, und es entstehen Dinge, die so nicht auf meinem Plan standen…“

Ich kann also auch kreativ, merke ich. Ich kann nicht klagen, oder?

Steve Heitzer ist Achtsamkeitslehrer, Seminar- und Retreatleiter und lebt in Österreich. Neben Achtsamkeit und Pädagogik ist einer seiner Schwerpunkte die interspirituelle Begegnung von moderner Achtsamkeitspraxis, zeitgenössischer Weisheitslehre und der Botschaft Jesu. Zu seiner Website

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