36 Prozent der Deutschen sind ehrenamtlich aktiv
Welche Motive treiben uns Deutsche an, freiwillig und ohne Lohn ein Ehrenamt zu übernehmen? Engagement für eine bessere Welt? „Ethik heute“ hörte sich um.
Wer anderen hilft, hat selbst viel davon. Jedenfalls berichten das viele, die ehrenamtlich tätig sind. Sie freuen sich, wenn sie anderen Menschen helfen können. Der Altruismus bringt Sinn in ihr Leben – so etwas wie inneren Reichtum. Was man für ein Ehrenamt braucht? Vor allem viel Zeit, Mitgefühl, Geduld, einen Blick für Menschen in Not und ein Wir-Gefühl.
Nicht nur Rentner, Mütter und Arbeitslose engagieren sich in ihrer Freizeit für ein Ehrenamt, sondern manchmal auch hochqualifizierte Berufsgruppen wie Ärzte oder Führungskräfte. Man möchte meinen, der Trend zum Ehrenamt wäre in unserer Leistungsgesellschaft rückläufig. Aber nein, dem ist nicht so.
Rund 12 Millionen Menschen in Deutschland engagieren sich laut einer Erhebung des IfD-Allensbach-Institutes derzeit in einem Ehrenamt, das sind 36 Prozent der Bevölkerung. Diese so genannte Engagementquote ist in den letzten Jahren stabil geblieben. Am höchsten liegt sie in Baden-Würtemberg (41 Prozent), am niedrigsten in Hamburg (29) und Berlin (28), Schlusslicht ist mit 26 Prozent Sachsen-Anhalt.
Um die Bedeutung der rund 100 Millionen Freiwilligen in Europa in der Gesellschaft herauszustellen, wurde das Jahr 2011 sogar von der Europäischen Union sogar zum Europäischen Jahr des Ehrenamtes erklärt.
Intelligenter Egoismus
Für Martin Hubal, 52, Berater und Coach von Führungskräften, schafft Helfen und Mithelfen eine große Freude und Befriedigung. „Meine Motivation würde ich als intelligenten Egoismus bezeichnen“, sagt er. Seine Überzeugung lautet: “ Sie erhalten, was Sie geben.“ Für ihn bringt es viel Zufriedenheit, wenn er sich Gedanken um das Wohl anderer macht. „Dann kommt viel zurück.“ Weit mehr, als wenn sich die Gedanken um einen selbst drehen.
Er arbeitete als einer von rund 400 ehrenamtlichen Helfern der viertägigen Veranstaltung mit dem Dalai Lama im August 2014 in Hamburg. Den Event wollte er nicht nur als Konsument erleben, sondern aktiv etwas zum Gelingen beitragen.
Seine Motivation ist es, sich für das Wohl anderer Menschen einzusetzen. Altruistische und spirituelle Werte und deren Verbreitung sind ihm wichtig. Außerdem unterstützt er Menschen in Krisensituationen bei einer Schuldnerberatung.
Hubal: „Ich habe auch viel Respekt vor Menschen, die mit Geduld, Achtsamkeit, Freude, Mitgefühl und Tatkraft in ihren Familien und ihrem beruflichen Umfeld wirken.“ Diese Menschen sind für ihn auch Vorbilder.
„Wenn sie sich um ihre Kollegen kümmern, gut über sie reden, sie fördern, sich mit ihnen freuen oder bei Misserfolg trösten, dann tun sie viel für das Allgemeinwohl.“
Martin Hubal hat eine Vision von einer besseren Gesellschaft, die sich über Werte und Ethik definiert. „Indem ich sinnvoll und mitfühlend handle, schaffe ich die Welt von morgen. Daran arbeite ich, deshalb praktiziere ich“, sagt er.
Zeit, der wahre Reichtum
Die häufigsten ehrenamtlichen Tätigkeiten finden sich in Deutschland derzeit in den Bereichen Kinder und Jugendliche, Lokales und Kirche. Allen voran setzen sich immer mehr Senioren als Zeitmillionäre für die Betreuung und den Nachhilfeunterricht von Kindern ein, deren Eltern berufstätig sind und die wenig Muße für ihren Nachwuchs haben.
Besonders bei der Integration von Flüchtlingskindern drücken zurzeit ehrenwerte Senioren als Lesepaten und in der Schülerbetreuung wieder die Schulbank. In lachenden Kinderherzen finden sie ihre Erfüllung. In der Rangfolge etwas weiter unten rangiert das Ehrenamt in den Bereichen Freizeit, Soziales, Senioren, Umwelt, Tierschutz, Kultur und zuletzt Politik.
Bis zu fünf Stunden pro Woche wenden die Ehrenamtlichen in der Regel für ihre freiwillige soziale Arbeit bzw. ihr bürgerschaftliches Engagement auf.
Bewusstseinswandel: Engagiert für das Gemeinwohl
Viele Deutsche packen heute selbst an und engagieren sich freiwillig, weil sie mit der Politik, die sich vor allem an Wirtschaftsinteressen orientiert, nicht mehr einverstanden sind. Engagierte Bürger wollen ihr Leben heute selbst gestalten. Auf diese Weise entstanden etwa die „Transition-Town-Bewegung“, Reparatur-Cafes, „Urban-Gardening“ oder die „Tafel“ für Hilfsbedürftige und viele andere kreative Ideen, vorwiegend regionale Initiativen und Graswurzelbewegungen.
Der Tenor: „Wir“ müssen künftig selbst initiativ werden und uns vermehrt um die Schwachen in der Gesellschaft kümmern, die der „Sozialstaat“ nicht mehr finanziert. Eigeninitiative und Eigenverantwortung sind in Zukunft stärker gefragt. Denn wer sollte sonst die sozial schwachen Menschen unterstützen, die für eine Profitgesellschaft nicht interessant sind?
Besonders alleinerziehende Mütter, immer mehr verarmte Kinder, Arbeitslose, alte und hilflose Menschen in Altenheimen, die zum Teil aus Zeitmangel des überforderten Pflegepersonals vernachlässigt werden, brauchen dringend Hilfe und liebevolle Zuwendung.
Ingfried Hobert, 54 Jahre, Arzt, engagiert sich ehrenamtlich für das Thema „Weltethos Schule“. Gemeinsam mit anderen initiierte er dieses Projekt. Das Schulzentrum Steinhude in Niedersachsen erhielt als erste deutsche Schule die Auszeichnung „Weltethos Schule“.
Was bedeutet Weltethos für ihn? Hobert: „Weltethos ist die Vision eines globalen Bewusstseinswandels hin zu einem friedlichen Zusammenleben, das auf Achtsamkeit und Mitgefühl für die Bedürfnisse der anderen basiert.“ (1) Seiner Ansicht nach können wir die Probleme im zwischenmenschlichen Bereich nur gemeinsam lösen. Hobert: „Der Schlüssel ist ein neues Wir-Gefühl.“
Tina Jaramillo Rojas, 40, Mutter zweier Kinder, die ebenfalls als ehrenamtliche Helferin menschliche Werte unterstützt, findet, dass sich jeder Mensch für das Gemeinwohl einsetzen und seine Talente teilen sollte. Rojas: „Das wäre das Beste, was unserer heutigen Gesellschaft passieren könnte. Dadurch würden die Menschen einen positiveren Umgang miteinander pflegen, sich fördern und gegenseitig unterstützen.“
Ihr bereitet es einfach Freude, etwas zu geben. Die Ursache für ihre Hilfsbereitschaft sieht sie darin, dass sie viele sehr schwierige Situationen bewältigen musste und daher viel über das Leben und das Prinzip von Ursache und Wirkung nachgedacht hat.
Der Profit bestimmt unser Leben immer mehr
Wie kommt es eigentlich, dass der Profit immer mehr unser Leben bestimmt und wirtschaftliche Interessen vor Werten wie Menschlichkeit und Mitgefühl, die dem Wohl der Gemeinschaft dienen, heute vorrangig sind? Ein kleiner Rückblick in die Geschichte sagt viel aus. In der gesamten abendländischen Tradition, sei es aus der Sicht der klassischen Antike oder der des Christentums gehörte der individuelle Beitrag zum allgemeinen Wohl unverzichtbar zu einem sinnerfüllten Leben.
Mit der Entwicklung des Bürgertums lösten jedoch Produktivität und Arbeit das Ideal der Gemeinwohlorientierung mehr und mehr ab. „Ein moralischer und tugendhafter Mensch wurde nicht mehr von seiner öffentlichen, für das Gemeinwohl einstehenden Tätigkeit her definiert, sondern von seiner ökonomischen Tätigkeit her bestimmt.“ (2)
Während dieser Zeit begannen sich die bürgerlichen Gesellschaften mehr und mehr als reine Interessengesellschaften zu verstehen. So wurde der ursprüngliche politische Freiheitsbegriff auf die Freiheit, die eigenen ökonomischen Interessen durchzusetzen, verkürzt.
Hat das Gemeinwohl in Deutschland eine Chance gegen wirtschaftliche Interessen, Egoismus, Individualismus und Eigeninteresse? Wie ließe sich ein neues Wir-Gefühl zum Wohl in der Gesellschaft kreieren?
Was ist Ihre Meinung? Diskutieren Sie mit und schreiben Sie einen Kommentar.
Michaela Doepke
Quellen:
1 Mehr im Interview mit Ingfried Hobert unter: http://www.drhobert.de/index.php?id=1350)
2 Gesa Birnkraut: Ehrenamt in kulturellen Institutionen im Vergleich zwischen den USA und Deutschland. Dissertation, Hamburg 2003
www. de.statista.com/themen/71/ehrenamt/