Portrait der Yogalehrerin Ingy Gamal
Ingy Gamal, in Ägypten aufgewachsen und in Hamburg beheimatet, ist Muslima. Vor allem der Sufismus, die mystische Richtung des Islam, hat sie beeinflusst. Sie arbeitet als Yoga-Lehrerin und verbindet fernöstliche Philosophie mit der Weisheit des Islam.
Ingy Gamal ist ein Freigeist. Sie ist Muslima und arbeitet als Yoga-Lehrerin in Hamburg. „Alles ist eins“ – das sei ein Grundgedanke im Yoga und im Islam, wie sie es versteht. „Es geht um etwas, das größer ist als wir und das alle Menschen verbindet“, ist die 39-Jährige überzeugt.
Ingy Gamal wurde 1980 in Kuwait geboren und ist im ägyptischen Alexandria aufgewachsen. Ihre Eltern sind religiös und modern zugleich. Ihr Vater ist Agraringenieur und Geschäftsmann. Er engagierte sich viele Jahre ehrenamtlich in einem Sportclub, der als eine Art Begegnungszentrum in Alexandria dient. Ihre Mutter, eine belesene, weltoffene Frau, war bei der Weltgesundheitsorganisation beschäftigt. Ingy ging in der Mittelmeerstadt auf eine deutsche Schule.
Die Gamals sind gläubig, beten fünf Mal am Tag und halten den Ramadan ein. Gleichzeitig sind sie liberal eingestellt und haben den beiden Kindern in erster Linie religiöse Werte vermittelt: Dankbarkeit, Mitgefühl, Großzügigkeit. Und sie haben sie dazu erzogen, selbst zu denken – das hat Ingy sich zu Herzen genommen.
Neugierig wie sie ist, stieß sie irgendwann auf die Schriften der Sufis, der mystischen Richtung des Islam. Vor allem Sheikh Kabir Helminski beeinflusste ihr Denken mit seinem Buch „Holistic Islam“, Ganzheitlicher Islam. Hier geht es darum, das Göttliche in allen Lebewesen zu sehen und sich selbst auf die Reise zu machen, es in sich zu entwickeln.
Vorerst keine Rückkehr nach Ägypten
2003, mit 23 Jahren und nachdem sie ihr Studium der Betriebswirtschaftslehre mit einem Bachelor abgeschlossen hatte, zieht Ingy Gamal mit ihrem Mann Karim, einem Deutsch-Ägypter, nach Deutschland. Sie liebt die deutsche Sprache und arbeitet zunächst im Einzelhandel. Später schließt sie ihr Studium mit einem Master an der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg ab.
2011, nach dem arabischen Frühling in Tunesien, gehen die Menschen in Ägypten auf die Straße. „Die Revolution wird von unserer Generation getragen“, erzählt Ingy, als würde sie alles noch einmal durchleben. „Wir haben mitgefiebert. Mein Bruder, meine Freunde sind auf dem Tahrir-Platz (Platz der Befreiung) gewesen. Wir wollten die Sehnsucht der Ägypter nach Freiheit, Demokratie und Gerechtigkeit unterstützen und überlegten ernsthaft, zurück in unsere Heimat zu gehen.“
Doch die junge Familie hatte erst vor einigen Monaten ihr zweites Kind bekommen, Ingy stillte noch und konnte die Vorgänge erst einmal nur per Fernsehen und Telefon verfolgen. Irgendwann brach der Kontakt zu ihrer Familie abrupt ab – es waren bange Tage. Was ist geschehen? Wird das Militär eingreifen?
So sehr sie auch spürte, dass „unser Land uns braucht“, nüchtern betrachtet, musste sie feststellen, dass ein roll back bevorstand. Die Militärs übernahmen die Macht, die Muslembruderschaft, aus ihrer Sicht „eine faschistische Organisation unter dem Namen des Islam“ sah ihre Chance gekommen. An eine Rückkehr war jetzt nicht mehr zu denken, denn in einem repressiven System leben, das kam für sie nicht in Frage. Ihrer Familie ging es den Umständen entsprechend gut, aber niemand wagte mehr zu demonstrieren.
„Liebe ist Teil unserer Beziehung zu Gott“
Die Ägypterin richtete sich erst einmal wieder in Deutschland ein. Sie jobbte in einem Second Hand-Laden, war an Mode und Styling interessiert. Eine „Ego-Sache“, nennt sie das heute. Tief in ihrem Herzen wusste sie: „Das braucht kein Mensch“ und begann, tiefere Fragen an das Leben zu stellen: „Was ist mein Beitrag für eine lebenswerte Welt? Wie werde ich das, was ich mache, am Ende meines Lebens betrachten?“
In diesem Schlüsselmoment ihres Lebens stieß sie auf Yoga. Eigentlich wollte sie nur einen Kurs gegen ihre Rückenschmerzen machen, doch sie merkte schnell, dass mehr dahinter steckt als körperliche Beweglichkeit und Wellness.
Sie tauchte ein in die Yoga-Philosophie, die ins Anusara-Yoga einfließt, denn in dieser Richtung wird die Wechselwirkung von Körper und Geist betont. In den Asanas werden innere Qualitäten wie Lebensmut, Offenheit, Stabilität, Dankbarkeit, Geduld verkörpert. Gleichzeitig helfen die Körper-Übungen, diese Tugenden zu stärken.
Die fernöstliche Praxis half ihr, ihre eigene Religion noch tiefer zu verstehen: „Yoga hat meine Beziehung zu Gott verändert“, so Ingy nachdenklich. „Ich bin Gott näher gekommen, habe die große Liebe in mir entdeckt, die über die Liebe zum Partner, zu den Kindern und zur Familie hinausgeht. „Liebe ist der wesentliche Teil unserer Beziehung zu Gott“, ist ihre Einsicht.
Sie spürt Unbehagen, wenn in der islamischen Tradition mit Angst und archaischen Metaphern operiert wird. „Oft kennen die Menschen nur den strafenden, furchteinflößenden Gott. Das macht uns unfrei, das ist mir zu negativ“, sinniert sie.
Gamal distanziert sich vehement von Gewalt und „mittelalterlichen Interpretationen des Koran“, wie sie es nennt, vom Heiligen Krieg und der Verquickung von Religion und Staat, die es in vielen arabischen Ländern gibt. Viel mehr betont sie die Stellen im Koran, in denen von Frieden und Harmonie die Rede ist und verweist auf Textpassagen, die die Freiheit des Menschen betonen:
„Zum Beispiel gibt es im Koran den Satz: ´Jeder ist frei, sich für Gott zu entscheiden oder nicht`. Auch wird ausdrücklich zu Respekt gegenüber anderen Religionen aufgerufen. Das sind für mich die Kernwerte des Islam.“ Man solle den Verstand benutzen, statt das nachzuplappern, was sich über Jahrhunderte nicht verändert hat, und den Koran in die neue Zeit übersetzen: „Was ist genau gemeint? Worum geht es wirklich?“
Erziehung durch Yoga
Bei diesen existenziellen Fragestellungen hat ihr Yoga geholfen. Die fernöstlichen Körper-Übungen fördern Achtsamkeit und Präsenz. Auf der Matte geht es nicht um Religion, Ideologie, sondern um die Essenz des Menschseins. Yoga als Mittel, in die Liebe zu gehen, so versteht Ingy den Yoga-Weg.
2015 begann sie, sich intensiv mit Yoga zu beschäftigen, um selbst Yoga-Lehrerin zu werden. Sie machte Ausbildungen bei Barbara Noh und Doug Keller, der auch Yoga-Therapie- und Philosophie unterrichtet und Persönlichkeitsentwicklung integriert. Insgesamt absolvierte sie 800 Ausbildungsstunden, die sie selbst bezahlt hat.
Heute arbeitet Ingy Gamal als Yoga-Lehrerin. Zu Beginn jeder Stunde gibt sie ihren Teilnehmerinnen einen Input aus der Yoga-Philosophie und erinnert während der Übungen immer wieder daran, eine bestimmte Qualität zu verkörpern. So kann Yoga helfen, die Persönlichkeit zu entwickeln. „Erziehung durch Yoga“ nennt sie das.
„Auch kommerzielles Yoga kann eine Tür öffnen.“
Dabei ist ihr bewusst, dass Yoga mittlerweile durch und durch kommerzialisiert ist. Gerade in den Städten werden an jeder Ecke, in vielen Fitness-Studios Kurse angeboten. Die Qualität spielt vielfach keine Rolle. Es soll günstig sein und daher können Yoga-Lehrerinnen mit Gruppen-Kursen kaum ihr Brot verdienen.
Trotzdem kann sie dieser Entwicklung etwas abgewinnen: „Kommerzielles Yoga kann eine Tür öffnen, weil die Asanas, Atemübungen und Meditation etwas mit den Menschen machen: Sie beruhigen das Nervensystem, und dadurch können wir klarer sehen, worum es im Leben geht“, ist die Yoga-Lehrerin überzeugt. „Wer dann weitermacht, kann den eigentlichen Yoga-Weg beschreiten: den Weg der Selbsterkenntnis und der Einsicht, dass wir nicht getrennt vom Ganzen sind.“ Dann achtet man auch auf sein Handeln, man lebt anders – das hat sie selbst erfahren.
Die Motivation, weniger zu konsumieren, umweltbewusst zu leben, sich für den Klimaschutz zu engagieren, habe sie durch das Yoga gefunden. Und so verbindet sie Yoga mit gesellschaftlichem Handeln. Jede unserer Handlungen sei in das Gewebe des Lebens verwoben – im Guten wie im Schlechten. „Wir sind vollkommen, aber nicht perfekt, es gibt immer etwas zu tun“, lächelt Ingy Gamal.
Birgit Stratmann