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Gesundes Arbeitklima, aber wie?

lassedesignen/ shutterstock.com
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Nachfrage für Achtsamkeitstraining in Firmen steigt

Alarmierende Zahlen über Arbeitsausfälle durch Burn-out lassen das Angebot an Achtsamkeitskursen für den Berufsalltag rasant anwachsen. Nicole Stern, Achtsamkeitscoach und Führungskraft, erklärt, wie sie sich für ein gesünderes Arbeitsklima einsetzt.
Bei meinen Achtsamkeitstrainings in Firmen stelle ich den Teilnehmern oft eine Eingangsfrage: „Was glauben Sie, wie werden sich die Anforderungen in Ihrem Arbeitsbereich in den nächsten Jahren für Sie entwickeln? Rechnen Sie mit einem Rückgang der Aufgaben, der Informationsflut und der Komplexität? Wird es kaum Veränderungen geben? Oder erwarten Sie einen stetigen und deutlichen Anstieg der Arbeitsanforderungen und der Arbeitsmenge?“
Über 90 Prozent der Befragten antworten spontan und sind sich sicher: Die Anforderungen werden weiter deutlich ansteigen. Sie erwarten eine höhere Arbeitsbelastung.
Ratlosigkeit macht sich breit, wenn ich weiterfrage: „Fühlen Sie sich dieser Herausforderung gewachsen? Wie werden Sie darauf reagieren – gesundheitlich und emotional? Werden Sie von Ihrem Arbeitgeber auf diese zu erwartende Entwicklung vorbereitet?“
Der Arbeitsalltag ist für viele Menschen von Hektik und hohem Termin- und Leistungsdruck geprägt. Stress ist allgegenwärtig geworden und hat deutliche Spuren hinterlassen. Die Zahl der psychisch bedingten Krankentage und die für die Unternehmen damit verbundenen Kosten steigen stetig. Die Zahlen des Stressreports 2012 sowie Untersuchungen von Krankenkassen und der WHO weisen eindeutig auf die hohe Prävalenz psychischer Erkrankungen und den damit verbundenen Produktivitätsausfall hin.
Bereits jeder fünfte Arbeitnehmer leidet unter gesundheitlichen Stressfolgen – von Schlafstörungen bis hin zum Herzinfarkt. Bis zu 13 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland sind nach Schätzungen von Gesundheitsexperten und Krankenkassen von Burnout betroffen. 41 Prozent aller Frühverrentungen wegen verminderter Erwerbsfähigkeit waren auf psychische Störungen zurückzuführen. Psychische Belastungen sind damit inzwischen die Ursache Nummer eins für Frühverrentungen. Der jährliche Ausfall an Bruttowertschöpfung wird auf 10,3 Mrd. Euro beziffert, die Produktionsausfallkosten belaufen sich auf 5,9 Mrd. Euro.
Diese alarmierenden Fakten haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer dazu angeregt, nach Präventions- und Bewältigungsstrategien zu suchen. Achtsamkeitstraining im beruflichen Kontext ist ein vielversprechender, gesundheitsfördernder und lösungsorientierter Ansatz. Im Mittelpunkt stehen Übungen zur Entspannung und Entschleunigung, ein Training von Selbstwahrnehmung und Selbstführung sowie eine Stärkung der Reflexionsfähigkeit.

Wie Unterstützung finden?

Vor dieser Frage stand ich selbst, als ich nach einer langjährigen Ausbildung zur Achtsamkeits- und Meditationslehrerin in verschiedenen Klöstern in Asien und Amerika 2007 zurück nach Deutschland kam und wieder ins Berufsleben einstieg. Als Führungskraft in einer schnell wachsenden Unternehmensberatung schien es keine Zeit, Ruhe und Anknüpfungspunkte für eine Achtsamkeitspraxis inmitten der Arbeitsanforderungen zu geben. Kreativität war gefragt, und ich erforschte, wie ich zunächst für mich persönlich, aber schließlich auch in Arbeitsabläufen, im Umgang mit Kollegen und in herausfordernden beruflichen Situationen hilfreiche Achtsamkeitsübungen einsetzen konnte. (…)
In Achtsamkeitsmeditationskursen und Coachings hörte ich bewegende Erfahrungsberichte. Achtsamkeitspraxis im persönlichen Alltag schien viel leichter zu gelingen als in den Spannungsfeldern der Berufswelt. Konzerne aus der Versicherungs-, Automobil- und Medienbranche begannen, sich vermehrt für das Thema Achtsamkeit zu interessieren und luden mich zu Vorträgen, Workshops und Führungskräftetrainings in ihre Unternehmen ein.
Auf der Basis meiner Erkenntnisse möchte ich Orientierung zum Thema geben, wie jeder von uns zu mehr Achtsamkeit am Arbeitsplatz beitragen kann. (…)

Fokussierter und gelassener werden

Achtsamkeit entsteht ganz natürlich, wenn wir unsere Aufmerksamkeit sammeln. In der Zerstreutheit des Arbeitsalltages fällt dies zunehmend schwer. Hier ein Beispiel über einen Kursteilnehmer: Seitdem Christian zum leitenden Angestellten befördert wurde, nahmen der Druck und die Verantwortung zu. Er bemerkte, wie er den ganzen Tag unter Strom stand, kaum Pausen machte und sich selbst kaum spürte. Sport hatte ihn früher von der Arbeit abgelenkt und ihm Ausgleich verschafft. Doch jetzt ging er joggen und dachte weiter an die Arbeit. Gut einschlafen konnte er schon lange nicht mehr, der Kopf machte, was er wollte, und er fand einfach den „Aus-Schalter“ nicht mehr, wie er berichtete. Er wollte unbedingt wieder „da oben“ zur Ruhe kommen.
Christian beschrieb, was das Training bei ihm bewirkt hatte: „Achtsamkeitstraining war meine Rettung. Ich habe im Kurs gelernt, wie ich einen Fokus halten kann, d.h. bewusst bei einer Sache zu bleiben. Wenn meine Aufmerksamkeit wieder abdriftete, nahm ich es mit Achtsamkeit wahr und lenkte meine sie wieder zum Fokus zurück. Als Perfektionist fand ich es ungemein erleichternd, dass ich hier nicht scheitern konnte. Jedes Bemerken des Abdriftens zeigte mir, wie viel achtsamer ich schon geworden war.
Ich habe in einer Übung erlebt, dass Multitasking ein Mythos ist, dem ich blind gefolgt war. Umgehend beschloss ich, meine Arbeitsweise zu ändern; seither arbeite ich nicht mehr an drei Dingen gleichzeitig. Allein das hat mir mehr Gelassenheit verschafft. Ich meine auch, dass ich bei der Arbeit effektiver geworden bin. Zusätzlich mache ich jetzt regelmäßig viele kleine achtsame Pausen. Verrückt – ich ­­hatte einfach vergessen, wie ich wieder Momente der Muße in mein Leben bringen kann.“

Gesündere Unternehmenskultur

„Nur wer sich selbst führen kann, ist eine Führungskraft.“ Manchmal werden Achtsamkeitstrainings auch in die Führungskräfte- und Teamentwicklung aufgenommen, weil sich ein Unternehmen dafür entscheidet, bestimmte Werte bewusster in der Unternehmenskultur zu verankern.
Ein Beispiel aus der Automobilbranche. Der Leiter der Personalentwicklung eines DAX-Unternehmens berichtet: „Ich bin der Überzeugung, dass Führungskräfte nur dann exzellent führen können, wenn sie sich zuerst selbst führen lernen. Dazu gehört auch Zeit zur Selbstreflexion, um Achtsamkeit zu lernen und mit der inneren Mitte verbunden zu sein.“
Sein Unternehmen hat einige Pilotprojekte im mittleren und oberen Management durchgeführt, in dem Achtsamkeitsübungen und Elemente der Achtsamkeitsmeditation in klassische Trainings der Führungskräfteentwicklung integriert waren. Die Teilnehmer wurden auf diese Weise für einen gesundheitsorientierten Führungsstil sensibilisiert. Sie erlebten, dass ihre inneren Haltungen und damit ihr gelebtes Führungsverhalten sehr stark auf ihre Teams wirken.
Immer mehr Unternehmen möchten eine Kultur der Achtsamkeit auf Gesundheit, mit neuen Leitbildern der Unternehmensführung und einem Wandel von Strukturen und Routinen etablieren. Achtsamkeitsübungen sind hier Mittel zum Zweck; sie sensibilisieren und schaffen die Grundlage für diesen Wandel.
Die Bertelsmann-Stiftung setzt sich im Diskussionsbeitrag Die erschöpfte Arbeitswelt ausführlich mit den Zusammenhängen von Leistungsvermögen und Gesundheit von Arbeitnehmern in Unternehmen auseinander. Sie sieht die Notwendigkeit, eine Kultur der Achtsamkeit von oben anzustoßen und vorzuleben. Die Führungsqualitäten erfordern Selbstwahrnehmung, Selbstbeherrschung, Einfühlungsvermögen, Sensibilität für Situationen sowie die Fähigkeit, an einer positiven Gestaltung mitzuwirken.

Neue Leitbilder und berufsrelevante Studien

In über 2500 Studien wurden Achtsamkeit und zugehörige Übungspraktiken im Rahmen von MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) wissenschaftlich untersucht. Die Ergebnisse sind besonders für Berufstätige von Bedeutung: Reduzierung des Stresserlebens, Verbesserung der Gedächtnisleistung, Förderung der Reaktionsfähigkeit, Erhöhung der Aufmerksamkeit und Konzentration, Verbesserung der Schlafqualität und andere. Die Studienergebnisse finden Beachtung in der Wirtschaftswelt und sensibilisieren auch Skeptiker für das Thema.
Prof. Dr. Niko Kohls, Professor für Gesundheitswissenschaft mit Schwerpunkt Gesundheitsförderung an der Hochschule für angewandte Wissenschaft Coburg: „Obwohl das MBSR-Training zunächst im medizinischen Kontext entwickelt wurde, ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass Achtsamkeit nicht nur Stress reduzieren kann, sondern auch dazu beitragen kann, Kreativität zu steigern sowie Kommunikations-, Interaktions- und Lernkompetenz von Individuen und Organisationen zu verbessern.“
Mit Spannung sind die Ergebnisse des Evaluationsprojektes Erfolg kommt von innen – Belastbarkeit, Zufriedenheit und kooperative Zusammenarbeit im Unternehmensalltag zu erwarten. Die im Frühjahr 2013 begonnene Studie erforscht die Wirkung von Achtsamkeitsmeditation am Arbeitsplatz. Bisher sind für dieses Projekt bereits über 15 Unternehmen in Deutschland rekrutiert worden, die jeweils bis zu 25 Mitarbeiter und Führungskräfte über einen Zeitraum von drei Monaten in diesen Methoden trainieren lassen.
Immer mehr Unternehmen und Organisationen erkennen, dass Achtsamkeitstraining zu einer empathischen, sinnstiftenden und nachhaltigen Unternehmenskultur beitragen kann. In den USA gibt es bereits eindrucksvolle Initiativen: Google hat sein 2007 gestartetes internes Achtsamkeitstraining Search Inside Yourself als wesentliches Element in der Entwicklung einer erfolgreichen Führungskultur identifiziert und eine Führungsakademie dazu gegründet.
Der Programmschwerpunkt liegt auf der Schulung von Achtsamkeit und auf dem Training der emotionalen Intelligenz, mit den fünf Kernbereichen Selbstwahrnehmung, Selbstkontrolle, Motivation, Empathie und soziale Kompetenz. Inzwischen werden international Trainer ausgebildet, die dieses Programm auch in anderen Unternehmen unterrichten.
US-amerikanische und auch europäische Wirtschaftshochschulen nehmen Achtsamkeitsprogramme in ihren Lehrplan auf. In Fortbildungskursen und im Rahmen des MBA-Studiums bieten Hochschullehrer Techniken an, die ihren Studenten dabei helfen, den Geist zu beruhigen und die Konzentration zu fördern. Jeremy Hunter, Lehrer an der School of Management an der Claremont Graduate University, befürwortet, dass Achtsamkeit im Mittelpunkt des Lehrplans für Business Schools stehen sollte. An der Harvard Business School konzentriert sich William George, der leitende Professor, darauf, Unternehmern zum besseren Verständnis ihrer Emotionen zu verhelfen; er selbst praktiziert seit 1975 Achtsamkeitsmeditation. …
Nicole Stern
Gekürzter Auszug aus dem Aufsatz der Autorin in dem Buch: Britta Hölzel und Christine Brähler (Hrsg.), Achtsamkeit mitten im Leben. Anwendungsgebiete und wissenschaftliche Perspektiven. O. W. Barth Verlag. Darin: Nicole Stern, Achtsamkeit im Berufsalltag, S. 243 ff.
Der Neurowissenschaftler Ulrich Ott über das Werk zur Anwendung der Achtsamkeit mit Beiträgen der führenden Achtsamkeitsforscher: “Wer Achtsamkeit wirklich verstehen und in sein Leben integrieren möchte, findet in diesem Buch wissenschaftlich fundierte Erklärungen und glasklare praktische Anleitungen für die wichtigsten Lebensbereiche und -phasen.”

Nicole-Stern

Nicole Stern, Achtsamkeits- und Meditationslehrerin mit langjähriger internationaler Trainingserfahrung. Als erfahrene Führungskraft in der freien Wirtschaft leitet sie vorwiegend Achtsamkeitstrainings für Führungskräfte in Unternehmen.
www.mindful-work.de; www.dharma-training.de

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