Eine Würdigung zum 300. Geburtstag des Philosophen
Immanuel Kant (1724-1804) gab den wesentlichen Impuls für die europäische Aufklärung, begründete eine Moral nicht auf Religion, sondern Vernunft basierend und war Wegbereiter der Idee des Völkerbundes. Ursula Baatz über einen Philosophen, der seiner Zeit voraus war und doch in einigen Punkten gegen seine eigenen Prinzipien verstieß.
An Kant kommt man nicht vorbei in diesem großen Gedenkjahr 2024. Vor dreihundert Jahren, am 22.April 1724, wurde der bekannte Philosoph in Königsberg geboren. Damals gehörte das Städtchen zu Preußen; heute heißt es Kaliningrad und ist eine russische Enklave und Raketenbasis, auf der Hyperschallraketen stationiert sind.
Damit ist man schon mitten im Thema: Zwar sagt man Philosophen nach, sie seien weltfremd, und Kant ist aus Königsberg nie hinausgekommen. Doch seine Schrift „Zum Ewigen Frieden“, publiziert 1795/6, ist von enormer Aktualität für die Welt heute.
Da heißt es etwa: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig einmischen.“ Kant ist Realist, also schließt er in seinen Vorbemerkungen die Möglichkeit von Kriegen nicht aus.
Doch soll selbst im Krieg „das wechselseitige Zutrauen [der gegnerischen Staaten] im künftigen Frieden“ gewahrt bleiben, also darf es keine „Anstellung der Meuchelmörder (percussores), Giftmischer (venefici), Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrats (perduellio) in dem bekriegten Staat etc.“ geben.
Frieden, so Kant, ist von Natur aus der Zweck menschlichen Zusammenlebens, und zwar in einer Föderation „republikanischer“ Staaten, in denen ein Weltbürgerrecht gilt. Weltbürger sein, heißt: Jeder Mensch hat das Recht auf Gastfreundschaft in anderen Staaten, darf also ungehindert reisen und sich anderswo aufhalten.
Die Vernunft ist die Basis, dass Menschen sich verständigen können
Allerdings weiß Kant auch um die „Bösartigkeit der menschlichen Natur“ – diesem Thema hat er in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ einen eigenen Abschnitt gewidmet. Ethik, also die Frage, wie man gut handeln kann und was „gut“ überhaupt bedeutet, ist für Kant zentral.
Darum geht es in einem seiner bekanntesten Werke, der „Kritik der praktischen Vernunft“, erschienen 1788. Bevor er sich aber den Fragen der Ethik widmete, hatte Kant in seiner ersten Kritik, der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781), die Bedingungen untersucht, unter denen Menschen überhaupt zu Erkenntnissen über die Welt kommen können.
Dabei fand er, dass wir zur Organisation, zur „Regulierung“ des Denkens ganz allgemein und daher auch über ethische Fragen Vernunftbegriffe brauchen, also Begriffe, die abstrakt sind. Dadurch kann man in etwa einigermaßen sicher sein, dass Menschen in etwa dasselbe meinen.
Vernunftbegriffe sind so etwas wie Konstanten des Bewusstsein, wie Omri Boehm und Daniel Kehlmann in einem neuen Buch über Kant festhalten. (Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant. Berlin 2024)
Zwar sind wir Menschen empirisch gesehen vereinzelte Pünktchen im Universum, „tierische Existenzen“ – doch „der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“, lassen Unendlichkeit und Unsterblichkeit erahnen.
Beides, Unendlichkeit wie Unsterblichkeit sind regulative Vernunftbegriffe, die sowohl für Erkenntnis als auch für Ethik grundlegend, aber „nicht Bestandteil von Erfahrung“ sind, wie Omri Boehm betont, denn Vernunftbegriffe sind nicht empirisch, mit unseren Sinnen erfahrbar.
So handeln, dass der Mensch der Zweck, nicht das Mittel ist
Menschen können, so Kant, frei handeln. Unter „Freiheit“ – ebenfalls ein Vernunftbegriff – versteht Kant die Fähigkeit der Person, spontan eine „Reihe von Begebenheiten selbst anzufangen“, also einen Anfangsimpuls zu setzen.
Freiheit kommt dann ins Spiel, „wenn wir einen Willen haben, statt nur einem Bedürfnis oder Wunsch nachzugeben“ (Boehm/Kehlmann).
Freiheit bedeutet für Kant aber nicht, dass jeder tut, was er will, ohne Rücksicht und Beziehung, beliebig und willkürlich.
Vielmehr orientiert sie sich an einer Regel, die die Freiheit in Beziehung zu den Mitmenschen setzt. In allen Kulturen und Religionen gibt es in verschiedenen Variationen die „Goldenen Regel“ „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu.“
Doch für Kant ist dies zu ungenau, denn das, was mir angenehm und recht ist, kann für andere unangenehm und unrecht sein.
Kant verlangt deswegen , dass die Grundsätze des Handelns verallgemeinerbar sein müssen: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“, lautet eine Fassung des Kategorischen Imperativs.
Eine andere Version betont die Würde der Person: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“
Frei handelt demnach nur, wer Menschen nicht als Mittel und Werkzeuge für egoistische Ziele benützt – seien die individuell oder kollektiv. Damit legt Kant auch einen Grundstein für die Forderung nach Menschenwürde.
Rassismus in Kants Denken
Doch findet sich in den ungefähr 5.000 Seiten von Kants Gesammelten Werken so manches, das aus heutiger Sicht Kants eigenen Forderungen nicht entspricht.
Da liest man etwa, dass die Frau Besitz des Mannes sei und diesem als denkendem Oberhaupt untergeordnet. Auch die Kinder und das Gesinde, also Knechte und Mägde, gehören zum Besitz des Mannes.
Dies entspricht damaligen Rechtsvorstellungen, aber bleibt weit hinter dem Kategorischen Imperativ zurück.
Als Professor an der Universität Königsberg hielt Kant Vorlesungen zu unterschiedlichsten Themen, so auch zu „Physischer Geographie“. Da der Philosoph nie aus Königsberg hinausgekommen war, stützte er sich auf Reiseliteratur, geschrieben von Reisenden, die wie er weiße Männer waren, und die Welt aus kolonialer Perspektive sahen.
„Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent“, schreibt Kant, schwarze Menschen in Afrika stünden noch „weit tiefer“, „und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften“.
Kants Rassismus steht in deutlichem Widerspruch zu seinem Universalismus, also etwa der Aufforderung, ein allgemein geltendes Völkerrecht und Weltbürgerschaft zu entwickeln, und mit jedem Menschen als „Zweck an sich“ umzugehen.
Identitätspolitik: Universalismus nicht zu Ende gedacht
Dieser Widerspruch ist bis heute relevant – etwa als Widerspruch zwischen universalen Menschenrechten und neokolonialer Ausbeutung.
Die Bewegung „Black Lives Matter“ in den USA fordert, die gesetzlich festgeschriebene Gleichheit aller auch tatsächlich einzuhalten; ähnlich fordern Schwule und Lesben gleiche Rechte und Pflichten.
Im Kampf um die Rechte bestimmter Gruppen geht allerdings gelegentlich der Blick auf das Allgemeine, das große Ganze verloren.
Die vielen identitätspolitischen Debatten, bei denen es um Sensibilitäten einzelner Gruppen geht, kann man als das Ergebnis eines nicht wirklich radikal gedachten Universalismus verstehen.
Identitätspolitik fokussiert auf die – berechtigten – Forderungen nach Freiheit von Unterdrückung für die eigene Gruppe, geht aber darüber nicht hinaus.
Das beginnt bereits mit der Erklärung der Menschenrechte von 1789, die nur Männer – „Bürger“ – berücksichtigt, mehr als Hälfte der Menschheit, nämlich Frauen und alle, die keine „Bürger“ sind, also etwa Sklaven und Menschen in den Kolonien, ausschließt.
Man muss also Kants Prinzipien gegen Kant einsetzen, um sexistische und rassistische Strukturen im Denken und der Gesellschaft zu adressieren. Man muss den Universalismus radikal denken, meint Omri Boehm, der für sein Buch „Radikaler Universalismus“ 2024 den Preis der Leipziger Buchmesse bekommen hat.
Das ist gar nicht so schwierig, wenn man genau hinschaut und unterscheidet zwischen einem Universalismus, der politisch nützlich ist, also einer bestimmten Gruppe dient, und einer radikalen universalen Haltung, in der es um Menschen geht, nicht um Rasse, Geschlecht, Religion, etc.
Kant hat da vielerlei Grundlegendes gedacht und geschrieben, wie Daniel Kehlmann und Omri Boehm in ihrem Gespräch über Kant immer wieder entdecken. Das Buch sei zur Lektüre empfohlen, denn es geht, wie sie sagen, nicht um Kant, sondern um uns und um unsere Zukunft.
Ursula Baatz
Lesetipps:
Omri Boehm und Daniel Kehlmann. Der bestirnte Himmel über mir. Ein Gespräch über Kant. Berlin 2024
Omri Boehm, Michael Adrian. Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Berlin 2024
Ursula Baatz ist Philosophin und Publizistin sowie langjährige Radio-Redakteurin (ORF-Ö1-Wissenschaft und Religion). Lehraufträge an den Universitäten Klagenfurt und Wien für interkulturelle Philosophie bzw. Ethik. Achtsamkeitslehrerin (MBSR, MSC, IMP). Praktiziert und lehrt Zen in christlichem Kontext (Escuela Zen „Zendo Betania“). Buchautorin, zuletzt erschienen: Achtsamkeit. Der Boom. Hintergründe, Perspektiven, Praktiken. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage 2023