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Miteinander sprechen, wo es unmöglich scheint

Brandenburg Projekt von Mehr Demokratie e.V. I Foto: Adam Sevens
Brandenburg Projekt von Mehr Demokratie e.V. I Foto: Adam Sevens

Ein Brandenburg-Projekt

Wie kann man Menschen mit unterschiedlichen politischen Einstellungen ins Gespräch bringen? Das Projekt „Weil wir hier leben – Gespräche von Mensch zu Mensch“ von Mehr Demokratie e. V. organisiert Dialoge. Hier sprechen zum Beispiel Menschen, die sich sonst nur über soziale Medien gestritten haben.

Text: Mike Kauschke

Nach den Wahlen in Thüringen und Brandenburg rätselt man in der Politik, wie man mit dem Erstarken rechtspopulistischer Kräfte umgehen soll. Es wird nach den Ursachen für diese Entwicklung gefragt und nach Möglichkeiten, Menschen wieder in den politischen Prozess einzubeziehen.

Inmitten dieser Fragen, die oft auch mit einer gewissen Ratlosigkeit einhergehen, veranstaltet der Verein Mehr Demokratie e.V. Bürgerdialoge in Brandenburger Kommunen, in denen versucht wird, Menschen über die vielen Gräben hinweg ins Gespräch zu bringen.

So sagt die Projektleiterin Judith Strasser über das Projekt: „Wir wollen Orte schaffen, in denen Menschen aus sehr unterschiedlichen sozialen Milieus und politischen Lagern zusammenkommen und sich begegnen.“ Die Dialoge werden in enger Zusammenarbeit mit Gemeindevertretung, Stadtverordnetenversammlung, Bürgermeister, Verwaltung und zivilgesellschaftlichen Akteuren vor Ort geplant und umgesetzt.

Damit will sich das Projekt nachhaltig aufbauen, um langfristig Dialogräume anzubieten. Denn, so Strasser, „es ist zeit- und kommunikationsaufwendig, bis man die verschiedenen Akteure alle an Bord hat.“

Menschliche Nähe trotz unterschiedlicher Meinungen

Das Projekt begann im Januar und ist noch in einer Experimentierphase mit verschiedenen Formaten, die vor den Landtagswahlen erprobt wurden, um Impulse für demokratische Verständigung zu setzen. Dabei werden verschiedene Zugänge auch mit thematischen Schwerpunkten erprobt, wie zum Beispiel losbasierte Dialoge, bei denen die Teilnehmenden zufällig ausgewählt werden.

Die Bürgermeisterin in Michendorf zum Beispiel lädt offiziell zum Dialog ein, der sich mit kommunaler Infrastruktur beschäftigt und in dem eventuell sogar Empfehlungen ausgearbeitet werden. In Bad Belzig wurden mehrere Dialoge in Folge organisiert, die ein Thema vertiefen wie zum Beispiel das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen.

“Gespräche von Mensch zu Mensch – weil wir hier leben” in Brandenburg, Foto: Adam Sevens

Dabei werden auch andere Methoden wie die Demokratische Aufstellung, die von Mehr Demokratie entwickelt wurde, erprobt.

Leitend für alle Formate ist die Frage: Wie können wir in Beziehung bleiben, auch wenn wir sehr konträre politische Ansichten haben?

Die Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie, Claudine Nierth, reflektiert über solch einen Prozess: „Bei den Dialogen in Brandenburg sitzen Menschen, die sich in der Coronazeit über Telegram-Gruppen zerstritten haben einander gegenüber, tauschen sich aus, hören vor allem zu und reflektieren: Wann reagiere ich? Wann würde ich den anderen am Liebsten unterbrechen? Und das teilen sie sich dann auch mit.

Und am Ende sagen sie: ‚Ich finde die Haltung oder die Meinung des Menschen immer noch nicht gut, aber ich bin ihm menschlich nähergekommen.‘“

Es sei eine Kulturkompetenz, einander menschlich näher zu sein und zu erleben, dass die anderen Menschen in der Demokratie keine Gefahr sind, sondern dass sie der Wert sind, der die Demokratie ausmache.

Impulse für demokratische Verständigung

In den verschiedenen Experimenten bleibt es jedoch schwer, Menschen einzubeziehen, die ein großes Misstrauen gegenüber demokratischen Institutionen haben. „Einen großen Teil der Landbevölkerung erreichen wir kaum“, erklärt Judith Strasser. Deshalb versucht man, Menschen zu finden, die als „Brücken-Personen“ wirken können. „Es gibt vor Ort häufig Leute, die ganz gut in allen möglichen Gruppierungen unterwegs sind und Verbindungen herstellen können“, so Strasser.

Moderation beim Projekt “Weil wir hier leben”, Foto: Adam Sevens

Es ist eine der Hauptherausforderungen, dass externe Akteure in ländlichen Gemeinden oft nicht gern gesehen sind. Deshalb sind Akteure vor Ort und Kooperationen mit anderen Organisationen wichtig, die an den Orten präsent sind. Ein Partner des Dialogprojekts ist z.B. die evangelische Kirche, die einen großen Aufruf gestartet hat, um Verständigungsorte zu bilden.

Strukturierte Prozesse

Wenn ein Dialog zustande kommt, übernehmen geschulte Mitarbeitende von Mehr Demokratie die Prozesssteuerung und Moderation. Es gibt einfache Regeln, wie von sich und aus dem eigenen Erleben zu sprechen.

Der Prozess ist durchstrukturiert, es wechseln Kleingruppen und Plenum. Manchmal wird ein größerer Bezeugungsraum gestaltet, wo die Menschen im Kreis stehen, jede und jeder in die Mitte treten kann, ihre Geschichte oder seine Erfahrung mitteilt oder was sie gerade von anderen gehört haben. Es gibt keine Zwischenfragen, kein Feedback; man wird aufgefordert, in einem bezeugenden Modus zu bleiben.

„Es hilft schon sehr viel, wenn da so ein Raum ist, wo das bezeugt wird, was Menschen erlebt haben oder was sie beschäftigt oder verletzt hat“, sagt Strasser. Bei den jeweiligen Dialogen gibt es keinen standardisierten Zugang, weil die Gelegenheitsstrukturen vor Ort so unterschiedlich und speziell sind.

„Wenn man Erfolg haben will mit solchen Dialogformaten“, erklärt Judith Strasser, „muss man ganz runter auf die granulare Ebene. Wir führen Gartenzaungespräche, sind in den lokalen Gremien, sind bei Festen dabei und begleiten einen Prozess über längere Zeit.“

Vom Menschsein berührt

Wie die langfristige Wirkung aussieht, wird die Zukunft zeigen. Das Projekt ist noch sehr jung. Judith Strasser hofft auf weitere Finanzierung und eine Erweiterung auf andere Bundesländer, besonders im Osten Deutschlands.

Motivierend wirken für Judith Strasser die Momente in den Dialogen, wo die Menschen „automatisierte Narrationen verlassen“ und „von dem Anderen als Mensch berührt sind“. Für viele ist allein die Tatsache, dass man gehört wird, ohne unterbrochen, angegangen oder sofort in Frage gestellt zu werden, etwas Besonderes.

Gesprächsrunde beim Projekt I Foto: Adam Sevens

Wie wichtig das ist, erklärt Claudine Nierth so: „Bei den Dialogen merken wir zum Beispiel, dass die Verletzungen, die durch die Wende entstanden sind, immer noch da sind. Wir haben dem einen Abend lang Raum gegeben. Plötzlich wurden viele Kränkungen von Ostdeutschen aber auch von Westdeutschen ins Gespräch gebracht.“

Unverarbeitete Verletzungen seien wie ein aufgeblasener Ball, der unter Wasser gehalten werden soll, das koste eine immense Kraft. „Wenn der Ball dann nach oben kommen kann und vielleicht sogar zerplatzt, dann ist das erlösend und öffnet wieder in die menschliche Verbindung, in die Zuneigung“. So entsteht wieder ein Stück weit ein Vertrauen, dass man zusammenwirken kann.

Trotz solcher Lichtblicke bleibt es eine Mammutaufgabe. „Wir sind gespannt, wie es weitergeht, es ist ein großes Experiment“, erklärt Strasser. Es ist Kulturarbeit im besten Sinne und zeigt eine Möglichkeit der Verständigung auf. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Weiterführende Informationen:

Brandenburg-Projekt von Mehr Demokratie e.V.: „Weil wir hier leben – Gespräche von Mensch zu Mensch“

 

Foto: privat
Foto: privat

Mike Kauschke

Mike Kauschke ist freier Autor bei Ethik heute. Zudem arbeitet er auch als Übersetzer, Dialogbegleiter und als Redaktionsleiter beim Magazin evolve. Er begleitet zusätzlich die Online-Dialoge im Netzwerk Ethik heute. www.mike-kauschke.de

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