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Achtsamkeit in der Natur

hikerwise/ Unsplash
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Anregungen von Michael Huppertz

In der Natur fällt es besonders leicht, achtsam zu sein und in den gegenwärtigen Moment zu kommen. Michael Huppertz schildert seine Erfahrungen und regt zu einigen Übungen an, etwa das nähere Erkunden eines kleinen Areals auf einer Wiese oder die Besinnung auf persönliche Themen, zu denen die Natur anregen kann.

Es ist noch dunkel, die Morgendämmerung kündigt sich zaghaft an. Eine Gruppe von Menschen zieht durch einen Park. Ihre Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit, nehmen mehr und mehr Wege und alte Bäume wahr, die in der Dunkelheit noch riesiger wirken als am Tage.

Die Gruppe bewegt sich schweigsam auf einem breiten Weg zu ihrem Ziel auf einer kleinen Anhöhe am Ende des Parks. Die Anhöhe bietet einen farblosen, verwaschenen Ausblick, der Felder, Wiesen und einen fernen Wald erahnen lässt.

Wir verstreuen uns auf diesem Gelände und suchen uns Plätze, um den Sonnenaufgang zu betrachten. Es gibt dort einige Stühle auf einer Terrasse, aber auch viel Platz auf der Wiese. Es ist kühl, aber wir haben gute Kleidung und Alusitzkissen. Nun sitzen wir wie Krähen herum und warten. Es passiert nichts. Wir haben uns nur diese Aufgabe gestellt: Den Sonnenaufgang betrachten und schauen, was das bei uns bewirkt.

Ganz allmählich lichtet sich die Dunkelheit und die Stille weicht einem tierischen Lärm. Es beginnt mit einigen Vogelstimmen, die sich rasch vermehren, dann kommen Gänse und Kühe hinzu, schließlich die Hähne.

Einige Vögel fliegen in die Baumkronen, um sich die besten Plätze für die ersten Sonnenstrahlen zu sichern. Sie warten wie wir. Es dauert und dauert. Irgendwann entwickelt sich ein Morgenrot, dann zeigt sich ein glühender Punkt hinter den fernen Baumkronen; schließlich hat die Sonne ihren großen Auftritt.

Er ist spektakulär, rasch, selbstbewusst. Schon bald wärmt sie uns, sorgt für ihr Publikum. Wir haben Glück und sie verschwindet nicht gleich wieder hinter Wolken. Wir schauen noch eine Weile zu, wie sie aufsteigt und versammeln uns dann zu einem Austausch über unsere Erfahrungen.

Über das Frieren, das Warten, die Ungeduld, die Langeweile, darüber, dass wir so viele Gedanken im Kopf hatten, über das Gefühl der Abhängigkeit, das Staunen, die Dankbarkeit sowie die Freude, einen Anfang zu erleben, der mehr Anfang nicht sein könnte. Wie geht es uns damit, wenn etwas anfängt, wenn wir etwas anfangen?

Mit dem Sonnenaufgang in der Gegenwart ankommen

In diesem Erlebnis steht die Natur im Zentrum sowie all das, was sie mit uns macht und bei uns auslöst. Ein Sonnenaufgang ist eine besondere Naturerfahrung und doch etwas, was jeden Tag geschieht. Das Erleben hilft , in der Gegenwart und in der Natur anzukommen.

Man kann auf vielerlei Weise in der Natur sein. Die meisten Menschen schätzen die Natur als Zuflucht vor den Anforderungen des Alltags; sie mögen ihre beruhigende Wirkung, ihre Langsamkeit, Vielfalt, Schönheit und vieles Andere.

In einer eher natürlichen Umgebung kann man wandern, Berge erklimmen, Gespräche führen, nachdenken, spielen, picknicken. Bei der Achtsamkeitspraxis in der Natur ist es wichtig, dass wir in Kontakt mit ihr sind und sie nicht nur als Kulisse für Aktivitäten nutzen.

Wir erkunden sie, indem wir sie anschauen, tasten, riechen, hören. Wir gestalten sie spielerisch, alleine oder gemeinsam, betreiben gerne ein wenig „Land Art“. Gewöhnlich reicht die einfache, alltägliche Natur, denn wir interessieren uns auch für das, was uns nicht ins Auge springt.

Eine schöne Übung, die in diese Richtung weist, heißt „Kleine Welt“. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer suchen sich ein kleines Areal auf dem Boden oder auch an einem Baum (ein Fuß lang, ein Fuß breit) und erkunden dieses 15 Minuten lang.

Man darf es auch berühren und erkundend verändern. Die Haltung der Achtsamkeit ist es, die bei dieser Übung den Weg von anfänglicher Skepsis und Abneigung zu Interesse oder vielleicht ein wenig Faszination ebnet.

Die Natur ermöglicht eine absichtslose Haltung

Achtsamkeit ist eine Haltung, in der wir absichtslos mit der Umgebung und Mitwelt in Kontakt sind. In dieser Haltung verweilen wir in der Gegenwart und sind offen für das, was geschieht.

In der Achtsamkeitspraxis geht es immer um diese Haltung, auch wenn es viele Möglichkeiten gibt, den Kontakt selbst zu gestalten. Hören wir Musik, so sind oft die Emotionen, Assoziationen und unser Körper stark beteiligt. In der Liebe erleben wir andere Menschen und die Verbundenheit mit ihnen, worin sie auch bestehen mag.

In der Natur erleben wir Vielfalt, Sinnlichkeit, Überraschungen, Freiheit und vieles andere. Die Natur, so wie wir sie in unserer Kultur erleben können, gestattet uns eine absichtslose kontemplative Haltung. Sinnliche Übungen, oft mit geschlossenen Augen, erleichtern esuns, in der Gegenwart zu bleiben, denn um die Gegenwart zu verlassen, brauchen wir in der Regel symbolische Transportmittel wie Sprache oder innere Bilder.

Manchmal bauen wir bei sinnlichen Übungen eine kleine Verzögerung ein: „Bitte stellt Euch zunächst einmal vor, wie sich dieser Baumstamm (dieses Moos etc.) anfühlen wird (2 Min.), jetzt berührt es bitte“. Was immer es ist, es wird sich anders anfühlen. Etwas zu erfahren ist mehr als sich etwas vorzustellen. Kritisch formuliert: Skepsis gegenüber unseren Erwartungen und Vorurteilen kann sinnvoll sein.

Anders als im „Waldbaden“ dreht sich die Achtsamkeitspraxis nicht in erster Linie um die angenehmen und gesundheitsfördernden Eigenschaften der Natur. Wir romantisieren die Natur nicht, sondern setzen auf Realismus und auf die Haltung der Achtsamkeit [siehe letzte Anmerkung.] In der Haltung der Achtsamkeit sind wir auch offen für die Eigenschaften der Natur, die Furcht, Ekel, Melancholie oder Einsamkeit auslösen.

Morastige Teiche erinnern an die Vergänglichkeit

Manchmal stellen sich Themen ein, denen man sich eine Zeitlang ohne Absicht und Anstrengung widmen kann.  So gibt es Mulden unter Bäumen, die so etwas wie Geborgenheit ausstrahlen, Anhöhen, die zum Thema Freiheit einladen, oder morastige Teiche, die an die Vergänglichkeit erinnern. H. D. Thoreau hat die Natur einmal als einen „Metaphernvorrat“ bezeichnet.

Sprechen wir ruhig von einem „Schatz an Metaphern“: Ein strahlender Himmel, ein Weg, der abwärts führt, ein Weg, der aufwärts führt, ein welkes Blatt, ein mächtiger Baum, eine freundliche Lichtung, ein Bach, der ruhig dahinfließt – wir können den persönlichen und allgemeinen existenziellen Bedeutungen dieser Naturphänomene nachspüren und uns von ihnen inspirieren lassen.

In meiner eigenen Achtsamkeitspraxis versuche ich immer häufiger, die Natur zu achten, einfach weil sie so ist, wie sie ist, und nicht, weil sie eine Funktion für mich oder irgendjemanden erfüllt. Dass mir etwas einfach so wie es ist wertvoll und wichtig ist, scheint mir sehr gut zur Absichtslosigkeit der Achtsamkeit zu passen.

Sicher können Erfahrungen in der Natur auch mit anderen Gefühlen und Gedanken verbunden sein, auch mit Überlegungen über Schaden und Nutzen. Sie müssen auch nicht angenehm oder in einer anderen Weise „positiv“ sein. Aber wir versuchen, in der Haltung der Achtsamkeit eher mit „und“ als mit „entweder-oder“ zu denken.

Natürlich hat sie einen Nutzen für uns und sei es nur, dass wir uns an ihr erfreuen oder sie für unsere Gesundheit aufsuchen (wie im „Waldbaden“), aber die Haltung der Absichtslosigkeit ermöglicht eine neue, zusätzliche Sichtweise und damit ein anderes Daseinsgefühl: Die Leichtigkeit und Freude, einfach nur mit etwas oder jemandem zu sein, ohne Erwartungen zu haben.

Unfassbare Natur, unfassbares Selbst

Auf einer ethischen und politischen Ebene könnte eine solche absichtslose Haltung eine emotionale und gleichzeitig lernbare Unterstützung für eine nicht-anthropozentrische (physiozentrische) Sicht der Natur sein. Weil sie aber eine spezifische menschliche Haltung ist, werden wir als Menschen auch in einer physiozentrischen Sicht weiterhin eine besondere Rolle spielen.Wir sind nicht nur in der Lage, die Natur – so wie wir sie kennen – zu schädigen, sondern auch zu erhalten und zu schützen; wir tragen, ob wir wollen oder nicht, eine Verantwortung für die Natur, die Pflanzen oder Tiere nicht haben.

Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, ist es hilfreich, wenn wir uns als Teil von kleinen und großen Situationen erleben, in denen auch die Natur eine Rolle spielt. Um diesen nicht-egozentrischen Blick zu fördern, arbeiten wir gerne mit „weiter Achtsamkeit“, also einer Form von Achtsamkeit, in der wir keinen Fokus haben und auch keinen Fokus haben wollen, sondern uns einfach für das interessieren, was gerade geschieht.

Wir verweilen z.B. ein wenig bei einem Aspekt der Natur und ziehen dann mit der Aufmerksamkeit weiter, um ihre Fülle zu erleben und uns in sie einzufügen. „Wir“, das ist auch unser Denken, unsere Sinne, unser Körper, unsere Bewegungen, unsere Emotionen, die unfassliche Natur im Zusammenspiel mit unserem unfasslichen Selbst.

Tipps zum Weiterlesen

M. Huppertz (mit V. Schatanek). Achtsamkeit in der Natur. 101 naturbezogene Achtsamkeitsübungen und theoretische Grundlagen. 2. veränderte Auflage. Paderborn: Junfermann 2021.

M. Huppertz. Die Kunst da zu sein. Häufig, selten und nie gestellte Fragen zur Achtsamkeit. Frankfurt: Mabuse-Verlag 2022

www.achtsamkeitindernatur.de

www.ag-achtsamkeit.org

Foto: privat
Foto: privat

Michael Huppertz, Dr. phil. Dipl. Soz., Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Studium der Soziologie, Philosophie und Medizin. Verschiedene psychotherapeutische Ausbildungen, seit 1997 Arbeit mit achtsamkeitsbasierter Psychotherapie. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Achtsamkeit, Ethik, Global Mental Health. www.mihuppertz.de

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