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Einsicht in die Vernetzheit allen Lebens

usgs/unsplash
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Die Goldene Regel, Teil 3

Wir sind Gemeinschaftswesen und in unserem Leben auf andere angewiesen. Aus dieser Einsicht in die Vernetztheit entsteht die ethische Regel, den anderen zu lieben wie sich selbst.

Wir sind keine Monaden, keine einsamen Inseln, sondern Gemeinschaftswesen, die auf Gegenseitigkeit angewiesen sind. Es gilt, die Illusion der Autarkie zu durchschauen. In diesem Sinne sagt Hans Jonas:

„Generisch ist die Gegenseitigkeit immer da, insofern ich, der für jemand Verantwortliche, unter Menschen lebend allemal auch jemandes Verantwortung bin. Dies folgt aus der Nicht-Autarkie des Menschen; und die Ur-Verantwortung der elterlichen Fürsorge hat jeder zuerst an sich selbst erfahren“ (Das Wesen des Judentums, Frankfurt/M. 3. Auflage 1923, S. 184f).

Es gehört zu den Stärken des Buddhismus, seit jeher die Vernetztheit und wechselseitige Bedingtheit und Abhängigkeit allen Lebens betont zu haben. Es gibt kein An-und-Für-sich-Sein der Wesen, sondern, wie der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh es ausdrückt, nur ein „Inter-Sein“ (engl. Interbeing).

Das Durchschauen der Illusion von Autarkie führt zur Bejahung der Abhängigkeit von anderen. Der Moralphilosoph Alasdair MacIntyre spricht von der „Anerkennung der Abhängigkeit“, aus der sich gewisse Tugenden ableiten lassen ( Die Anerkennung der Abhängigkeit. Über menschliche Tugend, Hamburg 2001, bes. S. 141ff).

Mir geht es nicht um eine Tugendethik, sondern um ein Ethos, das die Konsequenzen zieht aus dieser Anerkennung der Abhängigkeit von anderen: Wenn alles mit allem verbunden ist, dann sind letztlich ICH und DU nicht mehr zu trennen, sondern eins. Dann entdecken wir uns selbst in den Anderen. Die Anderen entdecken sich in uns.

Das führt zur Öffnung monadischer „ICH-Identität“ und der Wir-Gruppe. Nunmehr gehören auch „die Anderen“ zu MIR, zur Familie, „zu uns“, zum Netzwerk des Lebens. Andere Wesen werden Teil unserer „Ich-Identität“, wie der Buddhist Shantideva im 8. Jahrhundert es ausdrückte (Anleitungen auf dem Weg zur Glückseligkeit: Bodhicāryavatāra, Kap. 8, V. 110, zit. nach der Übersetzung von Diego Hangartner, Frankfurt/M. 2005, S. 207).

Dann fällt alles, was ich für den Anderen tue oder ihm antue, auf mich selbst zurück. Dann füge ich alles, was ich dem Anderen – positiv wie negativ – zufüge, letztlich mir selbst zu.

Die Wir-Gruppe langsam erweitern

Wie weit der Radius dieser Einsicht und das entsprechende Handeln gemäß der Goldenen Regel reicht, ist von Mensch zu Mensch verschieden. Viele handeln gemäß der partiellen Goldenen Regel. Zur WIR-Gruppe anerkannter Abhängigkeit und Zusammengehörigkeit zählen vielleicht nur die Familienangehörigen, die Angehörigen derselben Hautfarbe, Nation oder Religion.

Andere handeln gemäß der generellen Goldenen Regel: Sie beziehen das ganze Menschengeschlecht ein. Es ist die Idee der Menschheit als Völkerfamilie. Wie weit die Entgrenzung der Goldenen Regel darüber hinaus noch gehen kann, beschreibt etwa der britische Philosoph Mark Rowlands. Er schreibt über seinen jüngeren Bruder Brenin, der an Krebs erkrankt ist und den er nun aufopferungsvoll Tag und Nacht pflegt:

„Ich sagte mir, dass ich bereit war, alles für Brenin zu tun, was ich mir unter ähnlichen Umständen von einem anderen für mich selbst wünschen würde. Ich würde ihn nicht aus Prinzip am Leben erhalten, weil ich mir so etwas für mich selbst ebenfalls nicht gewünscht hätte. Aber wenn es eine Hoffnung gab, dass ich wieder gesund werden und ein erfülltes Leben führen konnte, würde ich mir wünschen, dass jemand für mich kämpfte – selbst wenn ich nicht begriff, was der Betreffende tat. Und deshalb, so sagte ich mir, musste ich für Brenin kämpfen – selbst wenn er nicht begriff, was ich tat, und selbst wenn er es ablehnte“ (Der Philosoph und der Wolf. Was ein wildes Tier uns lehrt, München 2010, S. 208).

Dieser Bericht ist ein Beispiel für die Geltung der universellen Goldenen Regel, wie sie bereits die Jaina oder auch ein Albert Schweizer gefordert haben. Denn der Bruder des Philosophen namens Brenin, dieser Bruder ist ein Wolf, mit dem Rowlands zehn Jahre lang zusammengelebt hat. So heißt denn auch das Buch Mark Rowlands: „Der Philosoph und der Wolf“. Für den Tierethiker Rowlands gilt die Goldene Regel auch für Tiere.

Dr. Martin Bauschke arbeitet im Büro Berlin der Stiftung Weltethos. Autor des Buches: Die Goldene Regel: Staunen – Verstehen – Handeln, Berlin 2010

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