Die Vision steht am Anfang

Nomi Baumgartl
Nomi Baumgartl

Gedanken zum Spirit of Humanity Forum

Vor jeder Veränderung steht das Denken, sagt der Philosoph Dr. Christoph Quarch, und schildert, warum wir Visionen von einer besseren Welt brauchen.

Wir haben es oft genug hört: das zynische Lamento der selbsternannten Realisten, die jedes kreative Nachdenken über eine andere, bessere Welt als romantische Träumerei oder hehre Illusion verspotten. Und wenn die eine oder andere Stimme sich erhebt, um auch die 230 Teilnehmer des 2. Spirit of Humanity Forums in Reykjavík als weltfremde Spinner abzutun, dann darf man dies getrost als geistloses Aufbäumen der Gralshüter eines untergehenden Paradigmas werten. Es ist ihnen unerträglich, vorgerechnet zu bekommen, dass ihr überkommenes Menschenbild nicht nur falsch, sondern unheilvoll ist.

Denn seien wir ehrlich: Der vermeintliche Realismus des neuzeitlichen Homo Oeconomicus hat uns im globalen Maßstab keineswegs den Wohlstand der Nationen beschert, sondern wachsende Wüsten, vergiftete Meere und hungernde Massen. Sein fatales Menschenbild, das Konkurrenzdenken und Gier heilig zu sprechen unternahm, hat den Geist der Menschlichkeit verraten, statt der Lebendigkeit zu dienen.

Wirklich realistisch ist es, diesem alten Paradigma zu entsagen. Und es scheint nicht der schlechteste Ansatz zu sein, wenn die Teilnehmer des Spirit of Humanity Forum darin übereinkamen, dies könne und müsse durch eine neue „Story“, einen neuen Mythos vorbereitet werden: die Vision einer blühenden Lebendigkeit.

Und wenn sie mit leuchtenden Augen und pochenden Herzen in ihren Gesprächszirkeln die Köpfe zusammensteckten, um zu erwägen, wie aus dieser Idee konkrete Taten entstehen können, dann ist das alles andere als eine Luxusbeschäftigung.

Die Ausbeute so einer Veranstaltung mag am Ende mager erscheinen. Aber was will man erwarten? Ein so mächtiges Paradigma wie das des Homo Oeconomicus lässt sich nicht durch einen Handstreich entmachten; eine neue Geschichte lässt sich nicht von heute auf morgen erfinden, eine neue Sprache nicht mir nichts dir nichts etablieren. Geduld und Zeit wird haben müssen, wer für den Spirit of Humanity zu kämpfen gewillt ist.

Doch lehrt dessen Geschichte eben auch, dass vor aller Praxis das Denken steht. Und dass Liebe und Mitgefühl erst dann die Welten von Politik und Wirtschaft durchdringen werden, wenn ein Feuer der Begeisterung das Eis in den Herzen der Verantwortungsträger zum Schmelzen bringt. Immer schon war die Geburt der Vision der Anfang der Revolution. Vielleicht, dass sie sich im April 2014 in Island zugetragen hat. Passen würde es – werden hier doch gelegentlich sogar neue Berge aus dem Meer geboren. Warum nicht auch Ideen, die Berge versetzen können?

Dr. Christoph Quarch (*1964) ist freischaffender Philosoph, Autor, Vortragender und Veranstalter philosophischer Reisen. www.christophquarch.de

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

images sv/ Unsplash

Mit der Familie chatten – kann das gut gehen?

Kolumne Beziehungsdynamiken Autorin und Familientherapeutin Mona Kino beantwortet in ihrer Kolumne “Beziehungsdynamiken verstehen” eine Frage zum Thema Kommunikation über Messenger: „Welche Gefahren birgt das Chatten mit der Familie über den Messenger?“
Fares Nimri/ Unsplash

Indien: Leben im Zeitmeer

Das ganz andere Zeitgefühl Das indische Zeitverständnis ist ganz anders als das europäische. Die Zeit gilt hier als illusorisch, irreal, folglich gehen die Menschen unbekümmert mit der Zeit um. Martin Kämpchen lebt seit 50 Jahren in Indien und versucht, die Kultur zu verstehen. Kann man die Zeit fühlen?

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel