Tanz-Performance zur Erinnerung an die Reichspogromnacht
Éva Pusztai-Fahidi hat den Holocaust überlebt. Das Erstarken des Rechtspopulismus erschreckt sie. Sie fand einen Weg, ihre Gefühle auszudrücken: Mit 90 begann sie, ihr Leben zu tanzen. Zur Erinnerung an die Novemberpogrome 1938 tanzt Éva Pusztai-Fahidi 2017 in Wien. Christa Spannbauer stellt die ungewöhnliche Tänzerin vor.
Wer diese Performance auf der Bühne erlebt, dem brennt sie sich unauslöschlich ins Gedächtnis ein. Die Grazie, mit der die 92-jährige Éva Pusztai-Fahidi zusammen mit der jungen Tänzerin Emese Chuorka ihr Leben tanzt, ist hinreißend. Und ergreifend die Würde, mit der die Auschwitz-Überlebende den Holocaust auf die Bühne bringt.
„Sea-Lavendel oder Die Euphorie des Seins“ lautet der Name des Tanztheaters, das im Oktober 2016 in Budapest Weltpremiere und kurz darauf in Berlin Deutschland-Premiere feierte. Mittlerweile wurde die Performance mehr als 50 Mal aufgeführt.
Am 22. Oktober 2017 wurde Éva Fahidi 92 Jahre alt. Als ich sie am Telefon fragte, wie es ihr denn gehe, rief sie lachend aus: „Einfach wunderbar!“ Im November, so erzählte sie, wird sie nach Wien reisen. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, den sie vor drei Jahren kennen und lieben lernte.
Dort wird sie auf der Bühne des Wiener Volkstheaters tanzen. Zur Erinnerung an die Geschehnisse in der Reichspogromnacht 1938. Wie sich das für sie anfühlt, nun, nach dem Erfolg der Rechtspopulisten in Österreich, wollte ich wissen: „Mich überkommt immer öfters ein déja-vu Gefühl. Ich reibe mir die Augen und frage mich: Sind wir in1933? Oder in 1938? Nie hätte ich gedacht, dass es noch einmal so weit kommen könnte. Es ist schrecklich. Doch mit meinen Aufführungen tue ich etwas dagegen.“
Nach Auschwitz-Birkenau verschleppt
Fast 60 Jahre hatte sie über ihre Erfahrungen im Vernichtungslager geschwiegen. Dann war es ihr nicht mehr länger möglich, die Erinnerungen zu verdrängen. „Wer Auschwitz-Birkenau überlebt hat, hat zwei Leben. Ein Leben vor Auschwitz und ein Leben nach Auschwitz. In dem Leben danach ist Auschwitz-Birkenau immer gegenwärtig. Unabhängig davon, wie lange es währt, ob man es aus dem Bewusstsein verdrängt, ob man darüber sprechen oder schweigen will. Auschwitz-Birkenau ist immer da, in jedem Augenblick, tief innen, im Körper und in der Seele“.
2003 kehrt sie erstmals an diesen Ort des Schreckens zurück, an den Ort, an dem die Asche ihrer Familie verstreut ist. Danach schrieb sie ihr Buch „Die Seele der Dinge“, über den Untergang ihrer jüdischen Großfamilie. „Ich wollte meiner Familie ein Denkmal setzen, haltbarer als Erz“, sagte sie. „Und ich wollte ihr für achtzehneinhalb wunderbare Jahre danken.“
In den Gesprächen erzählte sie liebevoll von den Menschen ihrer jüdischen Großfamilie. Sie erzählte lebhaft von der Weite der Puszta, dem Geruch des Gartens an lauen Sommerabenden, den prächtigen Lippizanern des großväterlichen Gestüts, von ihrer Begeisterung für Musik und ihrer frühen Liebe für die deutsche Literatur.
„Was man als Kind gelernt hat, wird man nie vergessen. Aus diesem Erfahrungsschatz habe ich mein ganzes Leben gelebt“, sagte sie. Sie erzählte von ihrem polternden, doch herzensguten Großvater, von ihrer klugen und schönen Mutter, den Gute-Nacht-Geschichten ihres Vaters, die immer mit den Worten begannen „Es war einmal eine kleine Fee mit dem Namen Eva…“, von den gemeinsamen Streifzügen durch Felder und Wiesen mit ihrer um acht Jahre jüngeren Schwester Gilike.
Es sind Erinnerungen an eine Welt, die mit der deutschen Besetzung Ungarns am 19. März 1944 für immer untergegangen ist, Erinnerungen an geliebte Menschen, die den ungarischen Holocaust nicht überlebt haben. Mit diesem Tag endete nicht nur Évas glückliche Jugend, an diesem Tag wurde eine Vernichtungsmaschinerie unvorstellbaren Ausmaßes in Gang gesetzt. Innerhalb weniger Wochen wurden 430.000 ungarische Juden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verschleppt. Unter ihnen die 18-jährige Éva und ihre Familie.
Als sie nach drei entsetzlichen Tagen im Viehwaggon an der Todesrampe von Auschwitz ankommen, winkt Josef Mengele Èva mit einer knappen Handbewegung auf die eine und ihre Familie auf die andere Seite. „Innerhalb von einer Sekunde hatte ich meinen Vater, meine Mutter, meine Schwester und meine nächsten Angehörigen verloren. Sie alle wurden ins Gas geschickt.“
An der Tür ihres Elternhauses öffnet ein fremder Mann
Auf die Frage, was sie denn darin unterstützt habe, diese Schreckenszeit im Vernichtungslager zu überstehen, sagte sie: „Ich durfte auch hier erfahren, dass es immer Menschen gibt, die einem in der größten Not beistehen“. Und dann beginnt sie zu erzählen: Von den vielen Gesten der Solidarität zwischen den Frauen in ihrer Baracke, von dem Trost, den sie sich gegenseitig spendeten, der Hoffnung, die sie nie aufgaben, und der Bereitschaft, selbst den letzten Bissen Brot miteinander zu teilen. Mit aller Entschlossenheit setzten sich die jungen Frauen gegen die Entmenschlichung und Entwürdigung zur Wehr.
1945 kehrte die 19-Jährige aus dem Todeslager in das Leben zurück. Doch als sie an der Tür ihres Elternhauses klingelte, öffnete ihr ein fremder Mann und wies sie mit barschen Worten ab. „Nun wusste ich: Ich war vollkommen allein, hatte niemanden mehr auf der Welt.“ Auch ihre Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Welt, die der Kommunismus in Aussicht gestellt hatte, sollte sich unter der realsozialistischen Regierung Ungarns schon bald zerschlagen.
Zur Zeit der großen Schauprozesse Anfang der 50er Jahre wurde ihr Mann verhaftet und sie selbst durfte als so genanntes „deklassiertes Element“ nur Hilfsarbeiten verrichten. Erst nach dem ungarischen Aufstand 1956 erhielt sie einen verantwortungsvollen Posten im Außenhandel und gründete mit der Wende 1989 eine eigene kleine Außenhandelsfirma.
Hass verwüstet die Seele
Seit zwei Jahrzehnten ist sie nun als Zeitzeugin unterwegs. Holocaust-Aktivistin nennt sie sich selbstbewusst. Unermüdlich spricht sie mit jungen Menschen in Europa. Um zu verhindern, dass sich Ähnliches wiederholt. Den Hass und die Bitterkeit, die sie viele Jahre in ihrem Herzen trug, hat sie dadurch überwunden. „Zu hassen ist ein Zustand, der die Seele verwüstet. Wenn man weiter hasst, bleibt man ein Opfer“, sagt sie, die heute so viel Güte ausstrahlt. „Wir Überlebenden haben die Erfahrung gemacht, dass man mit Hass im Herzen nicht gut leben kann.“
Wer Èva heute begegnet, trifft auf eine Frau mit starkem Lebenswillen, unzerstörter Hoffnung und tiefer Mitmenschlichkeit. In ihrer Person sind Freude, Trauer, Humor und Schmerz auf das Innigste miteinander verwoben. „Wenn man alles und alle verloren hat, bleibt einem das Leben“, sagt sie. „Und wenn man schon ein Leben hat, dann soll man es auch leben! In uns, die wir aus Auschwitz zurückgekommen sind, ist diese Lebenskraft sehr tief. Wir wissen, wie teuer das Leben ist.“
Nein, die Zeit heilt keine Wunden. Sie kann nur lehren, mit diesen Wunden zu leben. Der Schmerz bleibt. Die Toten auch. Sie altern nicht. Noch heute träumt die 92-Jährige, dass ihre kleine Schwester plötzlich vor der Tür steht und sagt: „Wir haben uns aber lange nicht gesehen. Wollen wir ein Rad schlagen?“
Christa Spannbauer
Erstmals traf Christa Spannbauer die Auschwitz-Überlebende Éva Pusztai-Fahidi 2011 für die Dreharbeiten zu dem Film Mut zum Leben – Die Botschaft der Überlebenden von Auschwitz. Seitdem verbinden die beiden Frauen freundschaftliche Bande. Als Zweitzeugin gibt Christa Spannbauer die Botschaft der Überlebenden in Filmgesprächen und Vorträgen weiter: www.christa-spannbauer.de/zweitzeugin/