Ein Interview mit Vivian Dittmar
Wir weichen Gefühlen aus, sagt Vivian Dittmar, und meiden Wut, Trauer und Angst. Besser wäre es, den Gefühlen Raum zu geben. Die Expertin für Gefühle spricht im Interview über die Kraft des Fühlens, den kompetenten Umgang damit und warum es an der Zeit ist, Mitgefühl zu kultivieren.
Das Gespräch führte Birgit Stratmann
Frage: Sie sind Expertin im Bereich „Gefühle“ und wie wir gut damit umgehen. Warum ist Ihnen das ein so wichtiges Anliegen?
Dittmar: Wir werden ja oft Experten in dem, wo wir selbst Schwierigkeiten haben. Das ist die ehrliche Antwort. Ich habe lange in mir mit Emotionen und Gefühlen viel zu tun gehabt. Das hat mir die Beziehungen verhauen und mir nicht ermöglicht, der Mensch zu sein, der ich sein wollte. Hier spielten vor allem die Emotionen eine Rolle.
Wir müssen kurz die Begriffe klären: Sie unterscheiden Gefühle und Emotionen.
Dittmar: Ja, Gefühle sind das, was aus dem Moment heraus entsteht. Emotionen sind nicht gefühlte Gefühle der Vergangenheit. Mein Bild dafür ist der emotionale Rucksack. Wir schleppen emotionale Altlasten mit uns herum, die uns immer wieder in die Quere kommen.
Bei manchen Menschen führt das zu einer emotionalen Taubheit, also dass wir Gefühle nicht fühlen. Das wird in unserer Gesellschaft gar nicht als problematisch erkannt. Wir haben ein Ideal, dass Freude okay ist, aber alle anderen Gefühle sind besser, wenn man sie nicht hat, z.B. Wut und Trauer. Emotionale Taubheit ist ein Symptom für emotionale Altlasten, z.B. Traumatisierung, und wird oft über Generationen weitergegeben.
Ein anderes Symptom für den emotionalen Rucksack können auch sehr starke Emotionen sein, die nicht zur Situation passen. Das kenne ich von mir auch. In solchen Momenten kann ich mich nicht so verhalten, wie ich es eigentlich will.
Alle Gefühle können hilfreich sein
Sie sagen, es gebe keine positiven und negativen Gefühle, sondern Gefühle sind neutral. Wie ist das zu verstehen?
Dittmar: Ich unterscheide schon zwischen Gefühlen, die kraftvoll und förderlich sind, und solchen, die zerstörerisch sind. Aber ich unterscheide anders als andere: Für die meisten sind Freude, Liebe, Glück gute Gefühle und Schmerz, Trauer, Wut usw. schlechte Gefühle. Das stimmt für mich nicht.
Die Grundgefühle Wut, Angst, Trauer, Schamgefühl und Freude sind alle fünf wichtig. Sie können positiv sein, wenn sie als Kraft auftreten. In ihren Schattenaspekten sind sie jedoch destruktiv, auch die Freude. Die wichtigste Unterscheidung für mich ist in Gefühle und Emotionen. Gefühle sind etwas Gesundes, Konstruktives, Ausdruck unserer Lebendigkeit.
Ein Beispiel wäre, dass wir, wenn wir eine schlimme Nachricht hören, mit Trauer reagieren – in dem Moment.
Dittmar: Ja, genau. Gefühle sind wie Brücken. Negative Gefühle sind Brücken zwischen dem, was ist, und dem, was wir gern hätten. Schmerz entsteht, wenn Wunsch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Die gesunden Gefühlskräfte sind die Medizin dafür.
Nehmen wir Ihr Beispiel, dass ich eine Nachricht bekomme, die nicht meinen Wünschen entspricht. Ich habe zum Beispiel heute erfahren, dass zu meinem Vortrag heute Abend in Hamburg über das „Innere Navi“ meine Bücher nicht rechtzeitig angekommen sind. Das finde ich sehr schade, weil ich mir das anders gewünscht hätte. Ein Moment von Trauer hilft mir, das anzunehmen und mich zu entspannen.
Wut erzeugt Aktivität
Sie sagen, dass jedes Gefühl gut, eine Kraft sein kann. Was ist zum Beispiel ist das Gute an Wut?
Dittmar: Bleiben wir bei dem Beispiel: Als die Nachricht kam, gab es auch Momente von Wut: Was ist schief gelaufen, wie konnte das geschehen, was können wir jetzt tun? Der Veranstalter kam mit der Idee: Die Helfer könnten Hamburgs Buchhandlungen abklappern und schauen, ob sie mein Buch haben – wenigstens Ansichtsexemplare.
Wut sagt: Das ist falsch, was machen wir jetzt? Wut mobilisiert, um aktiv zu werden und das Problem zu lösen. In diesem Fall fand ich, dass Aufwand und Nutzen in keinem Verhältnis zueinander standen und habe gesagt: Lasst es uns loslassen. Die Bücher sind nicht da. Schade – und gut.
Wir können ein Gefühl verändern, z.B. Wut zu Trauer. Wut ist gut, wenn es eine Handlungsoption gibt. Aber wenn ich nichts tun kann, ist es das falsche Gefühl.
Können Gefühle falsch sein?
Dittmar: Ja, Gefühle sind falsch, wenn sie nicht zur Situation passen. Jedes Gefühl hat eine bestimmte Funktion. Wut erzeugt Aktivität. Das ist so lange nützlich, wie ich etwas tun kann.
Ich kann die Wut oder andere Gefühle aber nicht einfach abschalten.
Dittmar: Das ist der springende Punkt. Wenn wir bei reinen, gesunden Gefühlskräften sind, können wir leicht wechseln, z.B. von Wut zu Trauer, indem wir es erkennen und unsere Interpretation ändern, etwa von: „Das ist falsch“, zu „Das ist schade“.
Wenn wir eine Emotion nicht verändern oder steuern können, haben wir es mit Schattengefühlen zu tun. Ich merke es daran, dass ich viel mehr emotionale Energie erzeuge, als ich bräuchte, um das Problem zu lösen.
Dann gehen wir ins Drama, „Es kann doch nicht sein, dass….“ und es kommt zu Überreaktionen. Die kommen meistens aus der Kindheit, wo ich mich nicht genügend berücksichtigt fühlte. Wenn wir diese Altlasten nicht sehen und diese Emotionen dann ausagieren, können wir viel kaputt machen.
Wir sind verantwortlich für unsere Emotionen
Das wäre dann der Fall, wenn Wut und Aggression zu Gewalt führt – körperlich oder sprachlich, zum Beispiel über Hassrede im Internet.
Dittmar: Genau, hier haben wir es mit der Schattenwut zu tun. Diese kann zwar aus dem Moment heraus hochkochen, aber oft ist sie gekoppelt mit alten Emotionen. Dann ist die Wut zerstörerisch, sie zerstört z.B. Beziehungen. Sie kommt immer aus einem Absolutheitsanspruch: „Das, was ist, darf nicht sein“. Wir sehen nicht, dass es einfach nur eine Diskrepanz gibt zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
Nehmen wir als Beispiel Gewalt von rechtspopulistischen und rechtsextremen Gruppen.
Dittmar: Emotionen haben auch eine kollektive Ebene. Sie können instrumentalisiert werden, z.B. wenn wir emotionale Ladungen haben oder nicht bewältigte Traumata. Man gibt Menschen einfache Antworten, die in Übereinstimmung sind mit ihren Emotionen und Absolutheitsansprüchen und lädt sie ein, diese Emotionen in eine ganz bestimmte Richtung zu lenken, z.B. andere zu beschimpfen oder zu bekämpfen.
Wollen Sie damit sagen, dass die Betroffenen für ihre Emotionen nicht verantwortlich sind?
Dittmar: Nein, wir sind alle verantwortlich für unseren emotionalen Rucksack. Das ist für viele Menschen schwer zu verstehen, weil diese Emotionen oft aus der Kindheit kommen oder durch unsere Vorfahren. Dann schieben wir die Verantwortung ab. Aber der Rucksack ist auch unser Entwicklungspotenzial.
Kompetenz im Umgang mit Emotionen
Was können wir tun, wenn starke Wut aufkommt?
Dittmar: Ich empfehle Menschen, die mit starken Emotionen zu tun haben, eine Praxis, die ich „bewusste Entladung“ nenne. Wir können die überforderten Anteile in uns nicht allein klären, wir brauchen dazu ein empathisches Gegenüber. Mit dieser Unterstützung können wir fühlen, was wir allein nicht fühlen können.
Das Fühlen des Schmerzes ist heilsam und löst die Spannung. Bei der Wut ist es oft so, dass Schmerz dahinter liegt. Und diesen müssen wir wahrnehmen. Hinter dem Schmerz ist das verletzte Kind, das gesehen werden will. Ich möchte dazu beitragen, dass wir in unserer Gesellschaft Kompetenz im Umgang mit Emotionen aufbauen. Klar brauchen wir Psychologen und Therapeuten, aber sie allein können den großen Bedarf nicht decken.
Hinzu kommt, dass wir immer weniger tiefe Beziehungen haben. Emotionale Intimität ist jedoch ein menschliches Grundbedürfnis. Wir brauchen Möglichkeiten, mit uns selbst und anderen tiefer in Kontakt zu kommen. Das ist nährend. Im Moment haben wir das Bild: Du bist okay oder du bist krank und gehst zum Psychologen. Dazwischen gibt es nichts.
Angst: Das Unbekannte als Chance sehen
Nehmen wir ein weiteres Beispiel: Angst. Das ist ein großes Thema in unserer Gesellschaft, obwohl wir heute vermutlich nie zuvor in der Geschichte der Menschheit so eine Sicherheit genießen. Wie erklären Sie sich das?
Dittmar: Hier sehe ich einen direkten Zusammenhang. Angst tritt auf, sobald wir dem Unbekannten begegnen. Und je sicherer wir werden, um so größer wird der Bereich des Unbekannten und um so mehr Angst haben wir.
Angst ist ein natürliches Gefühl, eine Kraft, um dem Unbekannten zu begegnen. Im Moment stehen wir kollektiv vor einem großen Unbekannten, denn wir haben keine Ahnung, wie wir die Krisen bewältigen, in denen wir stecken: Klimawandel, Artensterben, Sinnkrise. Das löst enorme Ängste aus. Wir sind es aber nicht mehr gewöhnt, uns auf das Unbekannte einzulassen und es als Chance zu sehen.
Was wäre ein angemessener Umgang mit Angst?
Dittmar: Die Kraft erschließt sich immer im Fühlen, also dass wir fühlen, was da ist. Gefühle wollen primär gefühlt und nicht verstanden werden.
Aber meistens schaukeln die Gedanken die Gefühle weiter hoch.
Dittmar: Viele Menschen denken die Gefühle. Fühlen ist in unserer Gesellschaft eine verkümmerte Fähigkeit. Wir wissen nicht, wie fühlen geht und sind uns auch nicht bewusst, dass wir es nicht wissen. Das wirkliche Fühlen kann z.B. beim Körper beginnen, dadurch kommen wir in den gegenwärtigen Moment. Fühlen geschieht immer jetzt.
Gefühlen Raum geben ist heilend
Meinen Sie die Praxis der Achtsamkeit?
Dittmar: Achtsamkeit ist ein guter Start, um die Aufmerksamkeit weg von den Gedanken in den gegenwärtigen Moment zu bringen, z.B. zum Körper, zum Atem. Dann beginnen wir, uns den Phänomenen in unserem Innern zuzuwenden und das innere Geschehen unmittelbar wahrzunehmen, ohne es zu benennen. Wie fühlt es sich jetzt an, wie bewegt es sich, wo ist es eng, wo weit, wo drückt es?
Das große Lernen ist, gerade unangenehmen Gefühlen mehr Raum zu geben. Denn reflexartig wollen wir das Unangenehme immer wegdrücken, kleiner machen, nicht fühlen. Das geschieht, indem wir uns ablenken, denken, konsumieren.
Die große Entdeckung ist: Wenn Gefühle mehr Raum haben, lässt ihre Intensität nach, es wird weniger unangenehm. Die Gefühle beginnen sich zu lösen. Das zu lernen ist sehr wichtig.
Vom Fühlen zum Mitfühlen
Wir müssen nicht nur mit eigenen Gefühlen gut umgehen, sondern auch mit denen von anderen. Welche Fähigkeiten brauchen wir dafür?
Dittmar: Die größte Medizin, aber auch Herausforderung ist Mitgefühl zu entwickeln. Mitgefühl ist der nächste Evolutionsschritt. Es ist jetzt unsere Aufgabe, Fähigkeiten und Bewusstseinszustände zu kultivieren, so nenne ich das. Dazu gehören Mitgefühl, echte Liebe, Dankbarkeit, Hingabe, Vertrauen in das Leben. Diese haben wir alle als Potenzial in uns, aber sie sind nicht automatisch da. Und selbst wenn wir Mitgefühl und Liebesfähigkeit entwickelt haben, sind wir nicht permanent in einem Zustand des Mitgefühls.
Wenn wir uns als Menschen weiterentwickeln wollen, müssen wir Mitgefühl entwickeln. Es entsteht nicht von allein, sondern indem wir es einüben, z.B. durch konkrete Praktiken wie die buddhistische Liebende Güte-Meditation.
Tun wir etwas, um Mitgefühl zu stärken?
Dittmar: Ja, viele Menschen bemühen sich um Mitgefühl. Wir sehen es z.B. daran, wie sich das Verhältnis von Eltern und Kindern verändert. Hier entwickelt sich das Ideal der Liebe, das über die biologische, instinkthafte Ebene hinausgeht.
Auch Paarbeziehungen sind ein Feld, echte Liebesfähigkeit zu kultivieren. Der Rausch der Liebe flaut nach eineinhalb Jahren ab. Wenn dann Bindung entstehen soll, sind wir gefordert, lieben zu lernen. Das bedeutet, wir lieben die Person als Ganzes, nicht nur ihre guten Seiten.
„Wir befinden uns an einem Wendepunkt“
Glauben Sie, dass gesellschaftliche Transformation beim Einzelnen oder auf politischer Ebene beginnt?
Dittmar: Da sehe ich viele Wechselwirkungen. Einige arbeiten Traumata auf oder räumen innerlich auf. Andere kümmern sich um technische Lösungen oder engagieren sich im Bildungssektor. Alles greift ineinander.
Blicken Sie mit Zuversicht in die Zukunft?
Dittmar: Ich glaube, wir befinden uns an einem Wendepunkt, aber es scheint zu kippeln. Wir haben bald eine kritische Masse von Menschen zusammen, die dafür sorgen wollen, dass unsere Welt für alle ein guter Ort ist. Dies könnte anderen ermuntern, sich dem ebenfalls anschließen.
Ich spüre, dass die Liebeskraft, die durch uns in die Welt kommen möchte, stärker wird. Jede Handlung, die dieser Kraft entspringt, stärkt die Liebe und ist nicht umsonst, egal wie die Zukunft sein wird. Unsere Aufgabe ist jetzt, uns immer tiefer mit unserem Herzen zu verbinden und aus dem Herzen heraus zu handeln.
Vivian Dittmar ist Gründerin der Be the Change Stiftung für kulturellen Wandel, die sich für eine ökologisch nachhaltige, sozial gerechte und sinnerfüllte menschliche Präsenz auf dem Planeten Erde als neues Leitmotiv unserer Zeit einsetzt. Sie ist außerdem Autorin mehrerer Bucherfolge zu den Themen emotionale Intelligenz und Beziehungskompetenz. www.viviandittmar.net, www.be-the-change.de