Ein Portrait des Landwirts und Philosophen Pierre Rabhi
Der Algerier Pierre Rabhi lebt heute in Frankreich und ist Mitbegründer der Colibri-Bewegung, die sich an den Prinzipien von Genügsamkeit, Autonomie und miteinander Teilen ausrichtet. „Es reicht nicht aus, Bio zu essen“, so Rabhi. Innerer Wandel und gesellschaftlicher Wandel müssten Hand in Hand gehen.
Der Wald brennt. Alle Tiere flüchten und beobachten aus der Ferne, wie ihr Lebensraum von den Flammen zerstört wird. Reglos stehen sie da, gelähmt vom Unfassbaren. Endlich setzt sich in der allgemeinen Ratlosigkeit ein Tier in Bewegung. Ein einziges nur. Es ist das Kleinste von allen: der Kolibri. Unermüdlich fliegt er zum nahegelegenen See, nimmt mit seinem winzigen Schnabel so viel auf, wie er fassen kann, und fliegt hin zu den Flammen, um sie zu löschen. Der Löwe, der stolze König der Tiere, beobachtet das hoffnungslose Unterfangen des Kolibris eine Weile. Schließlich fragt er ihn, ob er denn etwa glaube, in seiner Winzigkeit etwas ausrichten zu können. Vielleicht nicht, ist die Antwort. Aber ich tue meinen Teil.
So lautet die Geschichte, die die Bewegung der Colibris zu ihrem Namen inspirierte. Ins Leben gerufen wurde sie von dem französischen Filmemacher Cyril Dion und seinem aus Algerien stammenden Freund Pierre Rabhi. Dion wurde mit seinem Film Tomorrow – die Welt ist voller Lösungen (1) international bekannt. Rabhi lebt heute in Frankreich und ist Landwirt, Umweltschützer und Philosoph. Die auf Genügsamkeit, Autonomie und miteinander Teilen ausgerichtete Bewegung engagiert sich für eine Gesellschaft, in der Ökologie und Solidarität im Mittelpunkt stehen.
Seit 2007 unterstützen die Colibris Initiativen Gleichgesinnter, unterhalten Wohnprojekte und eine eigene virtuelle Universität „MOOC“ (Massive Open Online Courses), in deren wachsendem Programm Themen angeboten werden wie Permakultur, die Schaffung lokaler Währungen oder basisdemokratisches Verwalten gemeinsamer Bedürfnisse. (2)
Ein Pionier für innere und äußere Ökologie
Die Galionsfigur dieser Bewegung ist Pierre Rabhi. Vor 81 Jahren wurde er in Algerien geboren. Seine Erziehung war gleichermaßen von der islamischen wie von der französischen Kultur geprägt. Nach seinem Übertritt zum Christentum und dem Ausbruch des Algerienkrieges verließ er sein Geburtsland und zog nach Paris. Seit den 60er Jahren lebt er mit seiner Frau Michèle auf einem Hof in den Cevennen im Süden Frankreichs, lange ohne fließendes Wasser und ohne Elektrizität.
Pierre Rabhi ist Umweltschützer, der sich für biologische Vielfalt, ökologischen Anbau und die Autonomie der Völker einsetzt. Bevor er 1998 das ehemalige Weingut Mas de Beaulieu in der Ardèche zum Experimentierhof für eine biodynamische Anbauweise macht, ist er zuständig für den Lehrgang Agrarökologie beim CEFRA (Zentrum für Studien und angewandte ländlich Ausbildung). Außerdem engagiert er sich in der Aktion „Landwirt ohne Grenzen“, gründet das CIEPAD (Zentrum für internationale angewandte Entwicklungs-Praktiken) und organisiert Sensibilisierungskampagnen und Entwicklungsprojekte in Europa und Afrika.
In den 90er Jahren wird er von der UNO zum Ratgeber beim Thema Desertifikation ernannt. Er ist Vizepräsident des Vereins Kokopelli, der sich für den Schutz natürlichen Saatgutes einsetzt. Sein ökologisches und pädagogisches Engagement brachte ihn kurzfristig in die Politik. 2002 ließ er sich für die Partei Erde und Humanismus – Bewegung für einen Aufstand der Gewissen als Kandidat für die Präsidentschaft Frankreichs aufstellen.
Als man bei der nächsten Wahl erneut an ihn herantrat, sagte er sich in einem offenen Brief (3) von jedem Engagement in einem seiner Meinung nach grundsätzlich kranken politischen System los. Eine Weltordnung, die die Zerstörung des eigenen Lebensraumes nicht nur nicht zu verhindern weiß, sondern fördert und damit die Auslöschung des Lebens auf der Erde riskiert, ist für ihn nicht reformierbar. Jede Maßnahme könne bestenfalls wie ein Trostpflaster auf einer gigantischen klaffenden Wunde wirken.
Den Mythos Wachstum enttarnen
Pierre Rabhi spricht vom Ende einer Zivilisation und von einem neuen Paradigma, nach dem nicht mehr materieller Gewinn, unbegrenztes Wachstum und uneingeschränkte Gier den Lauf der Welt bestimmen, sondern der Schutz des nährenden Bodens und des Lebendigen. Sein Engagement ist universell. Er fordert jeden einzelnen Menschen dazu auf, sich selbst im Sinne einer inneren Ökologie zu verändern. An jeden einzelnen appelliert er, die Verantwortung für seine innere Haltung zu übernehmen und Frieden einkehren zu lassen.
„Es reicht nicht aus, Bio zu essen und mit Sonnenenergie zu heizen! Ohne menschlichen Wandel gibt es keinen gesellschaftlichen Wandel. Und es gibt keinen menschlichen Wandel ohne den Wandel jedes einzelnen. Ich hoffe, dass die Menschheit endlich versteht, dass die große Veränderung die der menschlichen Seele sein wird“, sagt er in einem Interview mit der Zeitschrift Kaizen. (4)
Wie ist mein Verhältnis zu mir selbst? Herrscht in mir Harmonie oder bin ich von Konflikten zerrissen, traumatisiert von unverarbeiteten Erinnerungen? Wie ist mein Verhältnis zu anderen? Wie verhalte ich mich der Natur gegenüber und dem, was mich direkt umgibt? So sehen die Fragen aus, mit denen sich heute jeder zu beschäftigen hat, der sich im Sinne einer gesünderen, gerechteren und friedlicheren Welt engagiert.
Glückliche Genügsamkeit
So ist der einfache Mann aus dem Süden Algeriens längst nicht nur Landwirt und Umweltschützer, sondern auch Philosoph. Von den insgesamt zwanzig Büchern Pierre Rabhis liegen drei in deutscher Übersetzung vor, darunter Glückliche Genügsamkeit (Matthes und Seitz Berlin 2015) und Manifest für Mensch und Erde (Mathes und Seitz Berlin 2018). In beiden geht es um die Enttarnung des Mythos Wachstum, die Destruktivität des zwanghaften Fortschritts und die damit einhergehende Versklavung des Menschen der, abhängig von Technik, Finanzmarkt und Konsum letztlich so unfrei ist wie nie.
In seinen Schriften ruft Pierre Rabhi nicht nur zur Rückkehr zu Natur und Gemeinschaft auf, sondern auch und vor allem zu einem Aufstand der Gewissen. Ihm geht es um weit mehr als das Engagement für eine andere Art der Produktion. Es geht um unsere Menschlichkeit, das, was uns in unserem Sein ausmacht: die Verbindung zum nährenden Boden, zu unseren Nächsten, zu uns selbst, zu allem Lebendigen. 5
Um die unterbrochenen Verbindungen wieder aufleben zu lassen, müssen wir uns frei machen vom Ballast all dessen, was die Werbeindustrie uns lehrt zu begehren, was wir aber nicht brauchen. Mit seinem Plädoyer für das einfache Leben prägte Pierre Rabhi den Begriff der „glücklichen Genügsamkeit“.
In diesem Denken steht er dem Christentum nahe, zu dem er als Jugendlicher vom Islam übergetreten ist. Kein Kampf gegen das Leben, keine Entweihung des höchsten Gutes, das uns geschenkt worden ist, sondern eine Rückkehr zum Göttlichen in uns und ein Besinnen auf die Kraft der bedingungslosen Liebe – so wird der grundsätzliche Wandel, zu dem Pierre Rabhi aufruft, möglich.
Kerstin Chavent
3 https://lanovella.wordpress.com/2006/10/19/la-magnifique-lettre-de-demission-de-pierre-rabhi-aux-elections-presidentielles-de-2007/
4 (https://www.la-croix.com/Actualite/Economie-Entreprises/Economie/Pierre-Rabhi-invite-au-changement-de-societe-2013-04-07-929880)
5 Die Grundlagen des von Pierre Rabhi geforderten Wandels finden sich in seiner Charta, die Kerstin Chavent ins Deutsche übersetzt hat
Kerstin Chavent lebt als Autorin und Sprachlehrerin in Südfrankreich. Sie hat einen eigenen Blog. Jüngste Veröffentlichung “Was wachsen will, muss Schalen abwerfen”. Ihre Bücher: „Krankheit heilt – vom kreativen Denken und dem Gespräch mit sich selbst“, 2014, „Traverser le miroir – de la peur du cancer à la confiance en la vie“ (Den Spiegel durchqueren – von der Angst vorm Krebs zum Vertrauen in das Leben), 2016. „Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist – Zuversicht für eine neue Zeit“ 2017, “Die Waffen niederlegen – Die Botschaft der Krebszellen verstehen” 2019.