Ein Essay von Christoph Quarch
„Leben heißt angeredet werden“, sagt der Philosoph Martin Buber. Von Geburt an sind wir eingebunden in soziale Gefüge, das prägt uns als Mensch. „Wir sind Beziehung“, schreibt der Autor Christoph Quarch. Doch wir lassen uns zu wenig von der Welt berühren. Wie Beziehung Lebendigkeit stiftet, lesen Sie in diesem Essay.
„Ich bin bezogen worden. Ich habe einen Bezug erhalten.“ So spricht die Bettdecke. Wenn sie sprachlich versiert ist, sagt sie vielleicht sogar: „Mir wurde eine Beziehung zuteil.“ Wir sprechen anders: „Ich beziehe mich auf….“ „Ich stelle ein Bezug her.“ „Ich gehe eine Beziehung ein.“ Oder: „Ich habe eine Beziehung.“
Was macht den Unterschied? Nicht allein, dass Bettdecken nicht reden können, sondern dass sie – wenn sie reden könnten – von Bezügen im Passiv sprechen, während wir Formulierungen im Aktiv vorziehen. Darauf hinzuweisen, ist mehr als ein bloßes Spiel mit Worten. Vielmehr verrät es etwas Wesentliches denen, die sich mit dem Wesen von Beziehungen befassen wollen:
Auch wenn wir als neuzeitliche Menschen dazu neigen, Beziehungen als etwas zu verstehen, was in unserer Verfügung steht – etwas, das wir machen, wollen oder haben können –, schwingt in dem vom Wort Beziehung ausgedrückten Wesen der Beziehung immer etwas mit, das sich unserer Verfügbarkeit entzieht: etwas, das über uns kommt; etwas, durch das wir bezogen und gezogen werden; ein Zug, der nicht von uns ausgeht, sondern von dem, zu dem wir in Beziehung treten.
„Leben heißt angeredet werden“, notierte der Philosoph Martin Buber (1886-1965) in einem Essay mit dem Titel Zwiesprache. Und er führt diesen Gedanken weiter aus: „Was mir widerfährt ist Anrede an mich. Als das, was mir widerfährt, ist das Weltgeschehen Anrede an mich.“
In diesen Worten ist eine Deutung des Menschseins verdichtet, die unsere Aufmerksamkeit verdient. Deren Pointe besteht darin, den Menschen als ein Wesen der Verbundenheit zu deuten – oder besser noch: als ein Wesen der Konversation. Menschsein, so ließe sich im Anschluss an Buber formulieren, ist Im-Gespräch-Sein – oder besser noch: Ein-Gespräch-Sein. „Seit ein Gespräch wir sind“, um eine Formulierung von Friedrich Hölderlin zu wählen, sind wir im eigentlichen Sinne Mensch.
Das Wunder der Beziehung
Dieser Gedanke erscheint auf den ersten Blick überraschend oder gar befremdlich. Denn als ein Gespräch verstehen wir uns für gewöhnlich nicht. Eher als Macher oder Produzenten – Homo Faber –, die mit ihrem Willen und ihrer Intelligenz auf die Welt einwirken. Oder, um das Menschenbild des von Yuval Noah Harari identifizierten „Dataismus“ zu skizzieren, wir deuten uns als biochemischer Nutzenoptimierungs-Algorithmus.
Allenfalls können wir uns mit dem Gedanken anfreunden, ein Stück menschlicher Identität darin zu erkennen, als sprachbegabte und intelligente Subjekte mit anderen Subjekten kommunizieren zu können. Aber dass wir wesentlich nichts anderes sind als ein Gespräch – das scheint doch recht abstrus zu sein.
Ist es aber nicht – wenn man nur den Mut aufbringt, sich tiefer auf das Wunder der Beziehung einzulassen. Denn man tut gut daran, den einfachen doch höchst bedeutsamen Umstand zu bedenken, dass wir Menschen nie alleine sind. Jede und jeder Einzelne findet sich immer bereits in einer Welt, die er nicht gemacht hat und die schon da war, ehe es ihn gab.
Jede und jeder Einzelne findet sich zudem immer schon eingebunden in ein soziales Gefüge, das man Familie, Stamm oder Gesellschaft nennen kann, das er sich nicht ausgesucht hat, das wohl aber vom ersten Atemzug an auf ihn einwirkt. Wir sind also nicht nur nicht allein, sondern – positiv gewendet – von Geburt an mit anderen verbunden und an andere gebunden. Ganz gleich, ob uns das passt oder nicht.
Wir werden von der Welt bezogen. Sie bezieht oder überzieht uns (und nicht umgekehrt) mit Verbindungen; und zwar nicht mit irgendwelchen Verbindungen, sondern mit solchen, die uns etwas angehen: „Was mir widerfährt ist Anrede an mich“, um nochmals Buber zu zitieren.
Am Anfang steht die Beziehung und nicht das Subjekt
Die alten Griechen wussten das genau. Das zeigt sich daran, dass sie die Welt als kósmos kannten: als eine schöne Ordnung. Schönheit ist nun aber das, was uns anspricht, das Ansprechende, das uns etwas sagt. Eine Welt, die einem etwas sagt, erschien in ihren Augen voll Sinn: als eine Welt, die man bejahen und verehren kann. „Alles ist voller Götter“, sagte in diesem Sinne der erste Philosoph des Abendlandes, Thales von Milet.
Und er meinte damit, dass der Mensch in allem etwas findet, das ihn wesentlich in Anspruch nimmt: zu seinem Wesen spricht, ihn ins Gespräch zieht und auf diese Weise die Beziehung stiftet; die Beziehung, die wir sind – und die wir brauchen, um zu wachsen und zu reifen, um eine Identität und Persönlichkeit auszubilden.
Denn eben das ist das Geheimnis der Beziehung: dass wir immer dann, wenn wir sie zulassen und das Gespräch mit dem beginnen, was uns ins Gespräch zieht, überhaupt erst zu einem bestimmten Subjekt werden, das „Ich bin“ oder „Ich will“ zu sagen vermöchte.
Nicht ist es so, dass wir erst Subjekt sind und dann willentlich Beziehungen knüpfen, herstellen oder eingehen; sondern nur, indem wir die uns gleichsam übergezogenen Bezüge ernst nehmen und im Gespräch unsere gegebenen Beziehungen verwirklichen, werden wir zu einmaligen und besonderen Personen oder Individuen. Am Anfang steht die Beziehung und nicht das Subjekt. An unseren Beziehungen entscheidet sich, wer wir sind – und nicht umgekehrt. „Der Mensch wird am Du zum Ich“, wie Martin Buber sagte.
Oder er wird es nicht. Was leider oft der Fall ist. Zumindest wenn wir Buber Glauben schenken: „Jeder von uns steckt in einem Panzer“, schreibt er, „den wir bald vor Gewöhnung nicht mehr spüren. Nur Augenblicke gibt es, die ihn durchdringen und die Seele zur Empfänglichkeit aufrühren.
Und wenn sich dergleichen uns angetan hat und wir dann aufmerken und uns fragen: ‚Was hat sich denn da Besonderes ereignet? Wars nicht von der Art, wie es mir alle Tage begegnet?‘, so dürfen wir uns erwidern: ‚Freilich, nichts Besonderes, so ist es alle Tage, nur wir sind alle Tage nicht da.“ Und er schließt diesen Abschnitt mit den Worten: „Die Ätherwellen brausen immer, aber wir haben zumeist unseren Empfänger abgestellt.“
Wir lassen uns zu wenig von der Welt berühren
Das ist klar gesehen. Denn seien wir ehrlich: In der Regel lassen wir uns nicht ein auf die Konversation mit der Welt und mit den Menschen. Wir verschanzen uns hinter dem Panzer, lassen uns nicht berühren von den Ansprüchen und Forderungen dieser Welt; lassen uns nicht verunsichern von ihren Anstößen und Anstößlichkeiten; vermeiden es, den Dingen und Menschen zu nahe zu kommen oder ihnen gar anzuhaften; flüchten uns in eine anspruchslose Haltung, die sich dem Zug in die Beziehung immer wieder neu entzieht.
Das ist niemandem persönlich anzukreiden. Hören wir noch einmal Martin Buber: „Wir vervollkommnen von Geschlecht zu Geschlecht den Schutzapparat. All unsere Wissenschaft versichert uns: ‚Sei ruhig, das geschieht eben alles wie es geschehen muss, aber an dich ist nichts gerichtet, du bist nicht gemeint, das ist eben die Welt, du kannst sie erleben, wie du willst, aber was immer du in dir damit anfängst geht von dir aus, man fordert dir nichts ab, man redet dich nicht an, alles ist still.“
In der Tat, das eben ist die Botschaft, die von allen Seiten auf uns Menschen der Moderne eindringt. Die digitalen Medien tun ihr Übriges, um uns gegen alle Ansprüche und alles Ansprechende von Welt und Mensch zu imprägnieren. Die Konsumwirtschaft flüstert uns dauern ein, wir selbst müssten unsere Ansprüche an die Welt groß und geltend machen, um sie dann – gegen Entgeld – befriedigen zu können. Ja selbst spirituelle Schulen lehren, der Weisheit letzter Schluss sei es, sich von der Welt zu entkoppeln, um in stiller Selbstbezüglichkeit des Geistes Frieden oder Glück zu finden: ganz so als sei Beziehungslosigkeit ein Ideal des Lebens.
Wer Beziehung meidet, beraubt sich der Lebendigkeit
Wenn man Martin Buber folgt, kommt man zum umgekehrten Schluss: Beziehungslosigkeit ist nicht das Ideal des Lebens, sondern ein probates Mittel, dem Leben die Lebendigkeit zu nehmen: es, um Bubers Worte zu verwenden, zu „sterilisieren“, indem ich es „von Anrede entkeime“. Das ist eine starke Formulierung, denn sie macht deutlich, welchen Preis wir zahlen, wenn wir uns dem Zug unserer Beziehungen entziehen: nicht nur werden wir anspruchslos, sondern auch verantwortungslos. Wir geben – ja, wir sind – dann keine Antwort mehr, wenn wir Mensch und Welt von Anrede entkeimen.
Die Schöpferkraft in uns erlahmt, das kreative Potenzial verdorrt. Denn wenn uns das uns meinende Du abhandenkommt, gibt es nichts mehr, an dem wir zum Ich werden könnten. Die Welt wird flach und nichtssagend, beziehungslos und ohne Zug. Keimfrei aber leblos. „Das zusammenhängende, sterilisierte System, in das sich all dies nur einzufügen braucht, ist das Titanenwerk der Menschheit“, lässt uns Buber wissen.
Dass es anders ging, lehrt die Geschichte: die Geschichte der Kultur, zu deren Gründungsmythos gehörte, dass die Titanen bezwungen und in die Tiefen des Tartarus verbannt wurden – die Geschichte der Kultur der Griechen: jenes Volkes, das in allem Götter sah, die zu den Menschen sprachen; zu Menschen, die Antwort auf den Anspruch dieser Götter gaben. Eine Antwort, die Kultur heißt.
Heute, da das Leben unserer Erde vielfältig bedroht ist, könnte es an der Zeit sein, den Anspruch des Kosmos neuerlich zu hören; uns nicht länger der Beziehung, in die wir vom Kosmos gezogen sind, zu entziehen, sondern das Gespräch mit der Erde zu suchen. „Bleibt der Erde treu!“, rief Friedrich Nietzsche seinen Lesern zu. „Bleibt in Beziehung, lebt beziehungsweise!“, wollen wir ergänzen.
Dr. phil. Christoph Quarch ist freischaffender Philosoph und Autor. Er lehrt an verschiedenen Hochschulen und veranstaltet philosophische Reisen, u.a. mit ZEIT-Reisen. www.christophquarch.de