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Tugenden verschaffen seelische Balance

Johannes Stoll/ photocase
Johannes Stoll/ photocase

Im Lockdown 2021

Corona-Frühling 2021: Menschen befinden sich im Lockdown der Frühling irgendwie auch. Viele hätten die Tendenz, Frust und Angst nach außen zu agieren, statt die Gefühle anzunehmen und konstruktiv damit umzugehen, so die Philosophin Bennent-Vahle. Gebraucht würden jetzt Rücksichtnahme, Empathie und Geduld.

Ich hätte nicht gedacht, heute noch einmal im dichten Flockenwirbel übers Feld zu gehen. Schon dreimal nahm der Frühling Fahrt auf und veranlasste mit gewagten Temperaturen Primeln und Löwenzahn dazu, arglos ihre leuchtenden Blüten zu entfalten.

Nun breitet sich eine frostig-weiche Schneeschicht darüber, die alle Farben verhüllt und den Vögeln Schweigen gebietet. Verhaltenes Piepsen hier und da, während Wildgänse und Entenpaare irgendwie ratlos am Bachufer herumstaksen, mit gedämpftem Elan und doch – wie mir scheint — in still harrender Duldsamkeit.

Menschen sehe ich nirgendwo, kein Fußabdruck auf dem Feldweg, nur eine nachlässig hingehauchte Hasenspur, die sich in der Böschung verliert. Lockdown des Frühlings, so als habe eine unsichtbare Hand es darauf angelegt, nun auch die Naturwelt für uns herab zu dimmen. Erstarrung und Apathie, nachdem hell fließendes Sonnenlicht zuvor schon dreimal den strahlenden Lenz in den März hineintrug.

Stillstand auch für uns, wir müssen erneut zuhause bleiben. Vorerst ist jede Aussicht auf ein unbeschwertes Miteinander im Frühlingserwachen zunichte. Neulich noch zogen die Gänse mit ohrenbetäubendem Geschrei ihre Kreise über unserem Garten, jetzt stehen sie reglos wartend auf der schneebedeckten Wiese. Eine wundersame Selbstberuhigungsfähigkeit scheint ihnen zu eigen, sinnbildlich geben sie der Gelassenheit als „verweilende Weite“ Ausdruck, wenngleich man entschleunigten Vögeln natürlich keinesfalls Tugenden zuschreiben sollte.

Angst, Stille, Einsamkeit und manchmal Argwohn

Heideggers Rede zur Gelassenheit etwa spricht einzig ein menschliches Vermögen an. Dieses liegt darin, dass wir uns blinden Tätigkeitstrieben zeitweilig entziehen und von erfolgsfixierter Geschäftigkeit ablassen können, um im Zurückstellen gängiger Weltdeutungen der erscheinenden Wirklichkeit der Dinge schrittweise näher zu kommen.

Doch Verharren, unumwundenes Hinschauen und geduldiges Standhalten verlangen zunächst einen akzeptierenden Umgang mit Angst und Verunsicherung. Hierbei geht es um Gefühlslagen, die uns aktuell — angesichts einer immer augenfälliger werdenden fundamentalen Verletzlichkeit menschlichen Seins — mehr denn je umtreiben und denen wir dennoch meistens auszuweichen suchen. Dieses Schicksal erleiden wir derzeit gleichsam kollektiv, und zwar in all seinen misslichen Facetten.

Wir stehen in dieser weltweiten Pandemie nicht zuletzt deshalb vor enormen Schwierigkeiten, weil wir kaum je gelernt haben, unangenehmen emotionalen Verfasstheiten aufgeschlossen zu begegnen und diejenigen Irritationen angemessen zu verarbeiten, welche durch die (nunmehr anhaltende) Erfahrung begrenzter Machbarkeit und Verfügbarkeit ausgelöst werden.

Jetzt überrollt uns das Außen: Das Virus mutiert uns unter den Händen weg, soziales Leben und Sinnbezüge zerbrechen, Stille, Einsamkeit und wechselseitiger Argwohn werden aufgezwungen. Verursacht durch das Abrücken der Anderen ereilt uns ein Gefühlsgemisch aus Angst, Schwäche und Bedürftigkeit. Dies evoziert gewissermaßen eine neuartige physisch gedämpfte Weltsicht, ein sich leiblich einnistendes Wissen infolge zutiefst berührender Erfahrungen von Traurigkeit durch Berührungsverbot.

Was uns fehlt – Selbsterkenntnis und Geduld

Es mangelt an Geduld, Gelassenheit und Demut — ein Tatbestand, über den eine Flut von Publikationen zu diesen Themen kaum hinwegtäuschen kann. Die Lebensbedingungen innerhalb westlicher Gesellschaften bieten bislang wenig Übungsraum für ruhige Betrachtung und ausdauernde Abwägung.

Wer Schmerzliches nicht aushalten kann, wird animiert, zwanghaft wegzuschauen, dubiose Psychotechniken anzuwenden und sogar offenbare Tatsachen umzudeuten. Wenn der Anblick von Krankheit und Tod zu Leibe rückt, antworten deshalb allzu viele mit schrillen, aggressiven Tönen: Für jede Gefährdung, jedes Scheitern, jeden Rückschlag gilt es umgehend Schuldige auszumachen.

Unstillbarer Aktivismus verlangt nach Nebenschauplätzen, Selbststilisierung, Ablenkung und Zerstreuung. So verwehrt man den Dingen — im aufgeregten, gehetzten Ringen um schnelle Ausflucht aus der Bredouille — ihren notwendigerweise zähen Verlauf. Man wagt es nicht, den schwierigeren Weg geduldigen Standhaltens zu betreten, um mit Bedacht auf Sicht zu fahren und über langwierige Rückkoppelungen Neues zu lernen. Wir alle haben diese Tendenzen.

Doch nur ein Selbst, welches verstörende emotionale Widerfahrnisse zulässt und sich darum bemüht, auch Unwillkürliches im eigenen Inneren zu erkunden und festzustellen, bleibt diffusen inneren Antrieben nicht willenlos ausgeliefert. Indem es sich unangenehmen Regungen bewusst zuwendet, um ihr Zusammenspiel auszuloten, erreicht es einen Zugewinn an Freiheit im Umgang mit Belastungen.

Es kommt mir beinahe wie eine philosophische Binsenweisheit vor zu sagen, dass Menschen nur über eine wache, ausgleichende Aktivität innerhalb ihres komplexen Gefühlsgeschehens wirklich so etwas wie Souveränität und Gelassenheit gewinnen können. Das heißt: Ein Mehr der stets ersehnten Seelenruhe wird paradoxerweise nur durch tiefere Einblicke in unliebsame innere Turbulenzen vorbereitet und auf diese Weise einer wohlbedachten Regie zugeführt.

Gelassenes Selbstsein realisiert sich nicht als kontrollierte Erhebung über den emotionalen Bereich. Doch weitaus weniger noch über ein vielfach propagiertes, vermeintlich authentisches Ausleben emotionaler Eingebungen, worauf man behauptet, ein Recht zu haben.

Verankert eine Person ihr Autonomieverständnis unreflektiert im ungehemmten Ausagieren innerer Impulse, Interessen und Wünsche, hat sie keine Chance über sich und ihre ‚Instinkte‘ hinauszuwachsen.

Sie folgt der Sehnsucht, gleichsam wie aus einem Guss zu sein und entledigt sich gewissermaßen freiwillig (bzw. indem sie aus freien Stücken dem freien Willen entsagt) ihrer naturverfügten Würde: Sie verabsolutiert fraglos eigene Sichtweisen, verweigert den beschwerlichen Weg kontroverser Abstimmungen und setzt — den Gemeinsinn verachtend — oftmals sogar diskursiv festgelegte Regelungen selbstherrlich außer Kraft.

Was uns weiterhelfen könnte: Rücksichtnahme und Einfühlung

Allein Tugenden verschaffen seelische Balance, sie sind ein vielteiliges, je individuell ineinander gefügtes Gerüst charakterlicher Ausformungen. Sie verringern die Gefahr der Selbsttäuschung und bewahren davor, selbstschädigend, d. h. auch in persönlichen Angelegenheiten gedankenlos zu verfahren. „Muss man sich denn alles von sich gefallen lassen? Kann man nicht stärker sein als seine Angst?“, fragt Viktor Frankl.

Darüber hinaus manifestiert sich über Tugendorientierung ein spezifischer Hang zu denkerischer Gründlichkeit, der es mit Kant gesprochen erlaubt, jeden Gegenstand „nicht bloß aus seinem, sondern aus gemeinschaftlichem Gesichtspunkt“ heraus zu betrachten.

Wenn wir es wollen, können wir uns mittels unseres Einfühlungsvermögens und unserer Imaginationskraft ziemlich weit in die Lage anderer hineinversetzen, um so Notwendigkeiten und Pflichten zu erkennen, die uns im Blick auf deren Wohlergehen auferlegt sind.

Damit ist gesagt: Es macht unsere menschliche Würde aus, angesichts der überaus misslichen abermaligen Zuspitzung der Coronalage genau diese Rücksichtnahme walten zu lassen, d.h. temporär verordnete Schutzmaßnahmen zu akzeptieren, auch wenn wir keinen persönlichen Schaden befürchten müssen und uns anderes vielleicht sinnvoller erscheint.

Adam Smith, ein großer Kenner der menschlichen Seele, wusste genau, dass jenseits einer Grundhaltung zwischenmenschlicher Rücksichtnahme keinerlei Chance auf Seelenruhe gegeben ist — so sehr man sich auch bemühen mag, innere Spannungen durch wildes Toben und lautes Gebrüll abzutragen.

Selbst der Applaus von Menschen aus dem Nahbereich vermag — so Smith — vielfach nur einen löchrigen Schleier der Selbsttäuschung über uns zu werfen, hinter dem die bohrende Frage nach unserer tatsächlichen Liebenswürdigkeit niemals ganz verstummt.

Gewalt und aggressive Anwürfe gegen Ordnungsträger oder Journalisten sind leicht als Kehrseite nagender Minusimpulse zu enttarnen. Wer ehrlicher Selbstbefragung Stand hält, wird dies schon bald erkennen müssen. Vor allem uneingestandene Verängstigung lässt uns an fraglicher Stelle Zuflucht suchen und schließlich jeden Unsinn glauben.

Gelassenheit und Bejahung

„Man schließt die Augen der Toten behutsam; nicht minder behutsam muss man die Augen der Lebenden öffnen“, schrieb Jean Cocteau. Dem wäre Rechnung zu tragen. Gelassenheit will erlebt, erspürt und eingeübt werden, sie hat wie jede emotionale Verfassung eine ansteckende Wirkung.

Da sie der Verletzlichkeit abgerungen ist, wird sie niemals bleibender Besitz werden und auch keine Perfektion erlangen. Allenfalls etabliert sich ein praktisches Können, auf das man sich allmählich verlassen kann. Vielleicht würden wir gerne so leben, als wären wir unbesiegbar oder sogar unsterblich.

Müssten wir aber Gelassenheit suchen, wenn uns dies gegeben wäre? Und müssten wir Gelassenheit einüben, wenn es uns möglich wäre, so unwillkürlich wie die schweigsamen Wildgänse in Resonanz mit unserem Umfeld zu treten?

Dieses Aufgehen in einer umfassenderen Wirklichkeit mag uns in seltenen Augenblicken der Überwältigung durch Schönheit überkommen, vielleicht auf einem erhabenen Berggipfel oder an der Küste des glitzernden Ozeans. Hier kann es passieren, dass wir blitzartig ohne unser Zutun eine Weitung zu grundlegender Bejahung und souveräner Ruhe erfahren.

Wer die Würde des Menschen festhalten will, darf nicht müde werden, an menschliche Vernunft zu appellieren, die nicht mehr und nicht weniger ist als ein performatives Vermögen unermüdlichen Abstandnehmens und fairen Kombinierens, um möglichst alle Faktoren einer (zumeist vertrackten) Situation zu berücksichtigen und ihnen gerecht zu werden.

Tragend ist dabei ein Wissen, dass dies zumeist nur annähernd gelingen kann. Smith empfiehlt in überzeugender Weise, um die Haltung eines unparteiischen Beobachters zu ringen, eine Haltung, welche an jeden Menschen von Kindheit an heranzutragen wäre.

Smith ist optimistisch, denn er baut auf die Kräfte eines ursprünglich angelegten Mitgefühls und Gerechtigkeitsempfindens. In diesem Sinne: An einem Standort der Weite annehmend verweilen zu können, ist Gelassenheit, während Besonnenheit darin liegt, aus dieser erweiterten Perspektive heraus entscheidend und handelnd einzugreifen. Dies bedeutet, stets mitfühlend bezogen auf das komplexe Gefüge ganz unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen zu agieren und jede Form der Selbstverabsolutierung zu vermeiden.

Jo Magrean

Dr. Heidemarie Bennent-Vahle betreibt eine Philosophische Praxis in Henri-Chapelle/Belgien. Sie ist Vorsitzende der IGPP (Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis) und Mitherausgeberin des Jahrbuchs. Sie ist Mitglied des BVPP (Berufsverband Philosophische Praxis), wo sie u. a. auch ausbildend tätig ist.

Neueste Buchveröffentlichung: Heidemarie Bennent-Vahle: Besonnenheit – eine politische Tugend. Zur ethischen Relevanz des Fühlens, Verlag Karl Alber 2020

Auf Ethik heute hat sie veröffentlicht “Mit Gefühl ärgerlich sein”

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