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„Das Unberechenbare gehört zum Menschsein dazu“

Volodymyr Baleha/ shutterstock
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Gespräch mit Luise Reddemann

Die bekannte Traumatherapeutin Prof. Dr. Luise Reddemann hat die Corona-Pandemie zum Anlass genommen, über Unsicherheit im Leben nachzudenken und ein Buch darüber zu schreiben. Sie spricht im Interview über die Klugheit, sich den Tatsachen des Lebens zu stellen und wie wichtig es ist, Trost zu spenden.

Das Gespräch führte Christa Spannbauer:

Frage: Ich habe Ihr neues Buch „Die Welt als unsicherer Ort“ mit großem Erkenntnisgewinn gelesen. Die Illusion der Beherrschbarkeit der Welt ist uns in der Corona-Pandemie abhanden gekommen. Sehen Sie in dieser Erfahrung der Unsicherheit auch eine Chance?

Reddemann: Als Psychotherapeutin geht es mir darum, meinen Patienten und Kolleginnen etwas anzubieten, das sie unterstützt. Das ist mein Anliegen. Ich bin Therapeutin und will den Menschen daher in so einer schwierigen Zeit beistehen. Da erlaube ich mir auch zu sagen: „Liebe Leute, eigentlich müssten wir es alle wissen, es ist eine unverrückbare Tatsache, dass die Welt ein unsicherer Ort ist.“

Wir haben das lange verdrängt, doch spätestens jetzt müssten wir es doch verstanden haben. Zum Menschsein gehört dieses Unberechenbare dazu. Wir können nicht alles bestimmen. Doch die, die das nicht wissen wollen – und das sind gar nicht so wenige – werden immer so weitermachen wie bisher. Genau diese Hybris ist im Nachkriegsdeutschland verbreitet. Die Vorstellung, dass wir durch Forschung oder Technik alles in den Griff bekämen. Sogar den Tod. Diese Vorstellung findet man auch im Umgang mit Corona. Das ist aber ein Irrtum.

Sie haben dem Thema der Sterblichkeit ein umfangreiches und starkes Kapitel gewidmet. Sie zitieren darin unter anderen den großen Psychotherapeuten Irvin Yalom: „Dem Tod ins Gesicht schauen, bändigt nicht nur die Angst, sondern macht das Leben ergreifender, kostbarer, vitaler. Eine solche Herangehensweise an den Tod führt zu einer Anleitung für das Leben.“ Viele Menschen versuchen aber genau das Gegenteil und den Gedanken an den Tod zu vermeiden. Könnten Sie das genauer erläutern?

Reddemann: Das gehört in den Bereich der Verleugnung. So zu tun, als gäbe es den Tod nicht und zu glauben, dass es mir dann besser ginge, wenn ich das tue. Es ist überwiegend ein kollektives Problem, weniger ein individuelles.

Wir hatten in früheren Zeiten einen ganz anderen kollektiven Umgang mit dem Tod. Wenn Sie sich zum Beispiel die Stundenuhren an den Kirchen anschauen, die an unsere Sterblichkeit erinnerten.

Indem wir den Tod verleugnen, nehmen wir uns etwas weg, das uns lebendiger machen könnte, zum Beispiel Dankbarkeit darüber, am Leben zu sein. Die Erkenntnis könnte wachsen, dass das Leben ein Geschenk ist, keine Selbstverständlichkeit. Und deshalb tut sich mit dieser massiven Todesverleugnung letztlich niemand einen Gefallen. Kollektiv betrachtet wäre es an der Zeit, dass sich möglichst viele von uns mit der Tatsache unserer Sterblichkeit beschäftigen. Da ist Corona möglicherweise eine Chance, das Thema zu öffnen.

Ich glaube, dass es das eigene Leben intensiviert, wenn man mit dem Bewusstsein lebt, dass mir das Leben gegeben ist und mir wieder genommen wird. Ich weiß natürlich, dass mir Menschen da widersprechen, weil sie sagen, sie hätten dann ja immer Angst.

Dann würde es darum gehen, sich dieser Angst zu stellen. Was sagt mir diese Angst über mich und meine Vorstellung von Leben? Vielleicht könnte ich mich mit Kulturen befassen, die dies anders betrachten? Vielleicht könnte mich das dahin bringen, mit dem Leben als Ganzem einverstanden zu sein.

Es mangelt uns an der Klugheit, uns den Tatsachen des Lebens zu stellen.

Wir haben als Gesellschaft in der Corona-Pandemie zugelassen, dass kranke und alte Menschen isoliert wurden und Menschen alleine sterben mussten. Was glauben Sie, können wir aus diesem Pandemie-Jahr lernen?

Reddemann: Für mich ist das die Folge unserer Verleugnung von Sterblichkeit und Verletzlichkeit. Was wir alten und kranken Menschen in diesem Jahr angetan haben ist entsetzlich. Sie wurden weggesperrt, damit sich die Gesellschaft der Illusion hingeben kann, dass man wieder alles unter Kontrolle bekommt. Das war lieblos und mitleidslos.

Es geht darum, das Menschsein als etwas zu akzeptieren, dem vielerlei Grenzen gesetzt sind: Wir werden krank, wir altern, wir sterben. Das anzunehmen, da könnte Corona eine Chance sein. Und um genau hinzuschauen, wie wir eigentlich mit Menschen umgehen, die hilfsbedürftig sind. Wir werden noch viel und lange daran arbeiten müssen, was wir uns da gegenseitig angetan haben.

Es ist ja wichtiger Teil Ihrer therapeutischen Arbeit, dass Menschen einen Ort der Geborgenheit in sich finden können. Brauchen wir den vielleicht zuerst, bevor wir uns der Angst stellen können? Wie können wir in uns selbst einen sicheren Ort finden?

Reddemann: Mit unserer Vorstellungskraft können wir einen inneren Ort der Geborgenheit gestalten und besuchen. Das gibt uns ein Stück weit Sicherheit und Erleben von Geborgenheit. Trotzdem können wir uns nicht an den Tatsachen des menschlichen Lebens vorbeimogeln.

Dass mit so viel Panik und Kontrollbedürfnis auf Covid geantwortet wurde, ist bedauerlich und ist mir auch fremd. Als Ärztin ist mir klar, dass wir doch immerfort mit Leid und Krankheit konfrontiert sind. Ich würde mir wünschen, dass viele Menschen diese Krise als Weckruf nehmen und sich mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen. Wie es in einem Psalm heißt: „Herr, lehre uns, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ Es mangelt uns an der Klugheit, uns den Tatsachen des Lebens zu stellen.

Trost heißt anzuerkennen, dass jemand leidet, weil ihm etwas angetan wurde.

In Ihrem Buch tritt auch das Thema Verbundenheit erstmals sehr stark in den Vordergrund. Weshalb ist Ihnen das jetzt so wichtig geworden?

Reddemann: Die Verbundenheit war mir immer schon wichtig, aber mir war bislang nicht so bewusst gewesen, wie wichtig es sein könnte, einmal laut darüber nachzudenken. Vor allem in Hinblick auf meine Kollegen und Kolleginnen, für die ich das Buch auch geschrieben habe.

Foto: Stefan Blume

In der Psychotherapie hat der Begriff bislang kaum Platz. Daher ist es mir so wichtig, dass wir Ärzte und Psychotherapeuten uns bewusst machen, dass Verbundenheit ein Geschenk des Lebens ist. Ich habe in dem Buch auch zwei Übungen an den Schluss gestellt, die diese Verbundenheit erfahrbar machen können.

Wir sind ja immer verbunden. Doch es geht mir darum, sich das bewusst zu machen und daraus Kraft zu schöpfen. Wir haben die Chance, uns viel wirksamer mit der Welt zu befassen, wenn wir uns in jedem Moment bewusst machen, mit wie vielen Menschen wir verbunden sind. Mit jeder Scheibe Brot, die ich esse, bin ich mit unzähligen Menschen verbunden, die mir das ermöglichen.

Ein weiteres zentrales Thema neben der Verbundenheit ist in Ihrem Buch das Mitgefühl. Und hier kommt auch der Trost ins Spiel, der für Sie ja eine Form des tätigen Mitgefühls ist. Sie kämpfen dafür, dem Trost einen angemessenen Platz in der Psychotherapie einzuräumen. Ich möchte Ihnen dafür ausdrücklich danken. Können Sie etwas zum Thema Trost in dieser Zeit der Krise sagen?

Reddemann: Trost ist im Kontext meiner Arbeit sehr wichtig. Anzuerkennen, dass jemand leidet, weil ihm etwas angetan wurde. Es ist mir auch ein großes Anliegen, dass wir Therapeutinnen dazu bereit sind, uns tröstlich auf andere Menschen einzulassen.

Das hatte Sigmund Freud abgelehnt, weil ihm die Wissenschaft zu wichtig war. Wenn man dann aber über ihn liest, wie er tatsächlich mit seinen Patienten umgegangen ist, dann sieht man, dass er sich sehr wohl tröstlich verhalten hat. Da hat sich in ihm der Wissenschaftler mit dem Therapeuten gestritten.

In diesem Elend, das wir derzeit erleben, brauchen wir es, uns einander trösten zu können.

Die Meinung, dass in der Psychotherapie alles wissenschaftlich begründet sein müsse, führte dazu, dass man sich um den Trost nicht gekümmert hat. Ich habe viel recherchiert nach Forschungsergebnissen zum Thema Trost. Die sind minimal. Und in der Psychotherapieszene auch kaum vorhanden. Jedoch sollte uns nichts und niemand daran hindern können, dass wir uns mitmenschlich zugewandt und freundlich verhalten.

Was sollen wir denn sonst miteinander tun, wenn wir nicht einmal dazu in der Lage sind, uns mitfühlend und tröstlich einander zuzuwenden. Und darum habe ich genau darauf großen Wert in meinem neuen Buch und auch schon in früheren gelegt.

Denn es ist schon so, dass sich jüngere Kolleginnen und Kollegen da weniger trauen, weil das Thema so verpönt ist und weil es heißt, Trösten wäre unwissenschaftlich. Ich erlaube mir Sachen zu sagen, die sonst kaum jemand in dieser Szene zu sagen wagt. Ich bin jetzt so alt, da ist es egal für mich, ob das große Anerkennung im Mainstream findet.

Ich hatte Vorbilder unter älteren Kolleginnen und Kollegen, für die das selbstverständlich war, sich ans Bett eines Patienten zu setzen und dessen Hand zu halten, also tröstende Gesten anzuwenden. Wenn Sie heute zum Arzt gehen, ist davon nicht mehr viel zu spüren.

In diesem Elend, das wir derzeit erleben, brauchen wir es, uns einander trösten zu können. Und damit anerkennen, dass es schwer ist. Und zu erfahren, dass es doch etwas leichter wird, wenn wir uns zusammentun und unsere Verbundenheit leben.

Wie können wir den Trost in uns selbst finden, wenn gerade niemand da ist? Ich treffe in meinen Seminaren immer wieder auf Menschen, die mir berichten, dass sie als Kind nicht getröstet wurden und denen es daher sehr schwerfällt, sich selbst tröstend zur Seite zu stehen. Haben Sie da einen Rat, wie wir uns selbst in schweren Zeiten trösten können?

Reddemann: Das gibt es leider viel zu häufig, dass Menschen keinen Trost erfahren haben. Ich biete meinen Patienten an, sich vorzustellen, sie nähmen sich selbst tröstend in den Arm. Ich sage ihnen: „Stellen Sie sich das unglückliche und ungetröstete Kind in Ihnen vor. Und dann stellen Sie sich vor, dass Sie dieses kindliche Ich liebevoll umarmen und ihm sagen, dass das wirklich schwer war, was es durchgemacht hat.“

Die erwachsene Person spricht also mit dem kindlichen Anteil. So kann sich der eine Teil liebevoll um den anderen kümmern. Das kann man ausprobieren.

Meinen Kolleginnen rate ich, ihre Patienten dazu einzuladen, sich selbst in den Arm zu nehmen bzw. sich das so vorzustellen. Das aktiviert im Gehirn nämlich die gleichen Bereiche. Das habe ich gerade bei einer Wissenschaftlerin gelesen. Wenn du es nicht machen kannst, dann stelle dir vor, dass du es tust. Es ist dann so, als ob wir es tatsächlich tun würden.

Deswegen sage ich jetzt häufig zu Menschen: Fühlt euch umarmt! Und deswegen sage ich jetzt auch zu Ihnen: Fühlen Sie sich umarmt! So können wir uns auch in Coronazeiten umarmen, indem wir in der Imagination Bilder davon kreieren. Und zugleich freue ich mich darauf, dass wir uns auch wieder richtig umarmen können. Denn es ist tröstlich, sich zu umarmen.

Prof. Dr. Luise Reddemann ist Fachärztin für Psychiatrie, Psychoanalytikerin und Traumatherapeutin. Sie entwickelte die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT).

Buchempfehlung: Luise Reddemann. Die Welt als unsicherer Ort. Psychotherapeutisches Handeln in Krisenzeiten. Klett-Cotta, 2021.

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