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Liebe heißt, am Leben teilhaben

Andreas Weber
Liebe erfahren im Kontakt mit der Natur, Bild des Autors |
Andreas Weber

Ein anderer Blick auf die Liebe

Wir erfahren Liebe im Kontakt mit dem Lebendigen, sagt der Biologe und Philosoph Andreas Weber, zum Beispiel in Gegenwart der Natur. Daher geht Liebe weit über Begehren und romatische Beziehungen hinaus. Sie ist die Sehnsucht, lebendig zu sein und zum Leben beizutragen.

In der Straße, durch die ich täglich gehe, haben die Birken noch immer nicht ihr Gold verloren. Es stehen dort auch einige Ebereschen mit ihren roten Beeren und dahinter ein paar große Tannen. So gehe ich täglich durch das Licht, das der stillen Zeit der Wintersonnenwende entspricht und dessen Farben traditionell zum Weihnachtsfest gehören. Ich gehe unter dem Gold der Birken und der Glut der Vogelbeeren, vorbei an Tannengrün. Ich gehe unter dem Licht der Bäume und bin glücklich.

Immer wieder frage ich mich, was diese Seligkeit eigentlich ist, die ich angesichts der Spuren empfinde, die andere Wesen zurücklassen. Ich sehe die Farben, ich freue mich am Leuchten. Aber dort ist noch etwas mehr. Und dieses Etwas ist es, was mich am meisten bewegt – und was ich am wenigsten verstanden habe. Das Gefühl, das mich erfüllt, ist am ehesten eine ungestillte Sehnsucht. Und das, obwohl ja alles hier ist. Die kleine Landschaft der Straße hat alles, um nicht nur vollständig zu sein, sondern sogar schön. Eine Feier des Jahreslaufs.

Und doch spüre ich ein Sehnen und weiß nicht, was es ist. Doch als ich kürzlich wieder diesen Weg gegangen bin, wurde mir plötzlich etwas klar. Ich fühlte, dass meine Empfindung ein Eingang in die Liebe ist. Ich trete in die Liebe ein, die sich als Gefühl der Sehnsucht bemerkbar macht, wenn ich mich hier mit den Birken und den Vogelbeeren und den Tannen treffe.

Ich gehe den Weg unter dem Licht der Bäume hinab und trete in die Liebe ein. Oder vielleicht muss ich auch sagen, dass ich von ihr umhüllt werde wie von einer warmen und leuchtenden Flüssigkeit. Alle Wesen und ihre Körper, das Birkengold und das Ebereschenrot und das Tannengrün sind auch darin enthalten. Gemeinsam bilden wir diese Substanz, die ich hier spüre. Die Landschaft der Straße eröffnet mir in den Körpern der lebenden Wesen einen Eingang in das Zentrum dieser Wirklichkeit. Und das Zentrum dieser Wirklichkeit ist die Liebe.

Die Idealisierung der romantischen Liebe

Sie lehrt mich etwas darüber, wie wir die Liebe nähren können, die derzeit auf der Welt so wenig sichtbar ist. Unsere Zivilisation hat ein sehr unglückliches Verhältnis zur Liebe. Die meisten Menschen glauben, Liebe sei ein Gefühl. Wir gebrauchen das Wort Liebe für das, was sich zwischen zwei Partnern emotional abspielt – oder eben auch nicht. Der Schauplatz der Liebe ist die Zweierbeziehung zwischen Menschen.

Entsprechend vergöttert unsere Gesellschaft die romantische Beziehung. Hier, so denken wir, gibt die Geliebte dem Geliebten das, was er selbst nicht besitzt und nicht alleine zu erzeugen imstande ist. “I love you, I need you”, “You are the Sunshine of my Life”: Liebe ist die Reaktion auf einen Mangel. Ich liebe den, der mein Bedürfnis zu stillen vermag.

Auch die Liebe der Eltern zu ihrem Kind denken wir so. Auch sie ist Beseitigung eines Mangels. Die Eltern können das, was das Kind nicht kann, und müssen es daher versorgen. Sie lieben es, indem sie ihm das geben, was es nicht hat. Das Kind liebt wiederum seine Eltern, weil es nicht alleine existieren kann.

Das Mangelmodell der Liebe ist eine alte europäische Denkfigur. Sie findet sich schon in den Dialogen Platons. Ihre Idee besteht darin, Liebe sei eine Reaktion, die etwas mit dem Stillen eines Bedürfnisses zu tun hat. Sehnsucht ist die Empfindung eines Mangels. Liebesglück ist dessen Beseitigung durch das geliebte Objekt.

Man kann leicht sehen, dass in einer solchen Auffassung von Liebe eigentlich eine Art Frühform des Kapitalismus vorgebildet ist: Wir brauchen immer etwas, was wir nicht haben. Wir können es nicht selbst beschaffen, also müssen wir es uns von anderen uns holen.

Die besonders guten Liebesobjekte sind rar, es herrscht rege Nachfrage nach ihnen, daher müssen wir uns gut vermarkten, um sie zu erringen. Die Idealisierung der romantische Liebe führt unweigerlich dazu, dass wir feststellen, dass niemand in der Lage ist unsere Bedürfnisse zu erfüllen. Geliebte Objekte erweisen sich als wenig liebevolle Subjekte.

Ich erfahre Liebe in Gegenwart der Bäume

Im Licht der letzten Birkenblätter und der späten Ebereschenbeeren trete ich in die Liebe ein. Hier ist Liebe etwas ganz anderes. Sie ist nicht das Begehren nach dem, was mir fehlt. Sie ist die Erfahrung von etwas, was in mir ist. Ich trete unter die flirrenden Goldplättchen der Birken und begreife, dass ich die Liebe in meinem eigenen Zentrum halte, genauso wie die Birken und die Ebereschen und die dunklen Tannen.

Diese Erfahrung folgt nicht dem Modell der Liebe als Mangel, sondern dem Fülleprinzip der Liebe. Dieses lautet: Liebe ist das Zentrum der Wirklichkeit – aber um sie zu erfahren, müssen wir ihr zur Wirksamkeit verhelfen.

Zwei Dinge sind hier wichtiig: Es ist alles schon da für mich. Es ist alles schon da, weil dieses Alles mit anderen Wesen, die ebenfalls leben, geteilt ist. Nicht ohne Grund erfahre ich die Liebe in der Gegenwart der Bäume. Ich teile mit ihnen ja meinen Atem, ich atme aus, was den Körper der Birke Jahr um Jahr an Umfang gewinnen lässt, und atme ein, was sie mir von ihrem Körper schenkt – nämlich meinen Atemsauerstoff.

Mit meinen Augen erfahre ich das Leuchten dieser Gegenseitigkeit, die zusammen, in ihrem gemeinsamen Handeln, aus dem sie sich beständig wieder in Vielfalt hervorbringt, die Liebe im Ganzen ist. Ich bin eine Scheibe, aus der Liebe geschnitten ist, und eines Tages werde ich wieder an Sie zurück gefüttert.

Lieben heißt, Lebendigkeit stiften

Liebe ist die einzige Dimension unserer Wirklichkeit, die alle Dualitäten vereint. Sie ist etwas Inneres, was wir empfinden oder worin wir uns selbst innerlich finden können. Und sie ist etwas Äußeres, was uns erblickt, das uns begegnet, so wie mir das Rot der Vogelbeeren und das Blattgold der Birken begegnet.

Die Liebe als Prinzip der Fülle ist also gar kein Gefühl. Sie ist vielmehr ein Element des Seins. Sie ist eine Substanz, aber eine andere als sich Chemiker Substanzen vorstellen. Sie ist der Körper aller lebenden Wesen, der in einem beständigen Austausch besteht. Und sie ist zugleich die Sehnsucht, lebendig zu sein, Leben zu stiften, am Leben teilzunehmen.

Darum ist die Erfahrung der Liebe immer ein Aufruf zum Tun. Die Liebe ist der Aufruf, das Leben, das wir mit allen teilen, durch unser eigenes Handeln, ja letztlich durch unser Leben zu nähren.

Ich glaube, dass die Sehnsucht, die mich befällt, wenn ich unter der Schönheit der Bäume wandere, ein Ruf an mich ist. Sie ruft mir zu, zum Leben beizutragen.

Dieser Ruf ist leicht zu verwechseln. Unsere Zivilisation macht daraus die Gier, in immer neue unberührte Landschaften zu reisen, die eine noch intensivere Befriedigung versprechen – aber selten halten. Wir verstehen oft den Ruf der Liebe nicht, wir vergessen, dass er nicht vom Begehren stammt, mehr zu haben, sondern aus der Sehnsucht entspringt, mehr für andere, für das Ganze zu tun.

Nur indem wir selbst Lebendigkeit stiften, können wir in die Liebe gehen, die uns ja schon längst umgibt, die eigentlich unsere Mitte bildet, in der wir uns mit den Birken, den Ebereschen und den Tannen treffen. Der Schriftsteller Franz Kafka, der so oft so unglücklich war, hat hierzu einen interessanten Satz aufgeschrieben.

Kafka schreibt: “Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie mit dem richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie. Das ist das Wesen der Zauberei, die nicht schafft, sondern ruft.”

Die Liebe ist die Magie, die nicht schafft, sondern ruft. Sie ist nicht der Mangel, den wir füllen wollen, sondern die Fülle, nach der wir uns sehnen. Rufen wir sie, bringt sie uns und allen Wesen Lebendigkeit.

Foto: Florian Büttner

Andreas Weber (Jahrgang 1967) ist Meeresbiologe und promovierter Philosoph. In seinen Büchern, Vorträgen und Workshops erforscht er das eigene Spüren als Zugang zur Innenerfahrung einer lebendigen Wirklichkeit und entwickelt auf dieser Grundlage eine „Erotische Ökologie“.

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