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Thich Nhat Hanh – ein Leben für den Frieden

Foto: Plum Village
Thich Nhat Hanh in 2009 |
Foto: Plum Village

Ein persönlicher Nachruf

Der vietnamesische Achtsamkeitslehrer und Friedensaktivist Thich Nhat Hanh verstarb am 22. Januar 2022 im Alter von 95 Jahren. Birgit Stratmann begegnete ihm 1993 und schreibt über herausfordernde Erfahrungen und magische Momente in Retreats mit ihm. Mit Thich Nhat Hanh verliert die Welt eine Tiefe der Achtsamkeit, die ihresgleichen sucht.

 

“Die Zukunft allen Lebens hängt von unseren achtsamen Schritten ab,“ ist eine zentrale Botschaft von Thich Nhat Hanh, die die Verbundenheit allen Lebens ausdrückt. Der bekannte Achtsamkeitslehrer, Friedensaktivist, Mönch, Poet und Autor ist am 22. Januar 2022 im Alter von 95 Jahren in seiner Heimat Vietnam verstorben.

Gerade sein ganzheitliches Verständnis und die Verbindung von Achtsamkeit und Friedensarbeit machte Thay, wie ihn seine Schülerinnen und Schüler nennen, zu einem herausragenden Meditationslehrer.

Achtsamkeit nicht als Heile-Welt-Erfahrung

Ich bin Thich Nhat Hanh 1993 zum ersten Mal begegnet, auf einem Achtsamkeitsretreat in Oldenburg. Damals war er hierzulande noch nicht so bekannt und wir waren nur um die 80 Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Für mich war es keine Erfahrung von „heiler Welt“, sondern eher wie ein Aufprall auf einem anderen Stern: die Bewegungen verlangsamen, Stille während des Essens, das gemeinsame Sitzen, das meditative Gehen in der Natur, inneren Raum schaffen, um die täglichen Vorträge zu hören.

All das widersprach dem, was ich gewohnt war: nach außen gerichtet leben, mit Tempo, Leistungsdruck, möglichst vielen Ablenkungen und Gedankenspiralen, aber auch einer starken Gewohnheit, alles, was schief läuft, nach außen zu projizieren.

Die Erfahrungen, die ich machte, waren alles andere als angenehm und brachten mich, gerade zu Beginn, an meine Grenzen. Aber sie weckten auch meine Neugier. Auf diesem anderen Stern musste ich mich erst mal orientieren, und es war interessant zu sehen, was es so alles gab.

Vor allem die Gehmeditation fiel mir schwer. Thich Nhat Hanh ging so unglaulich langsam, dass ich immer wieder aus dem Gleichgewicht kam und den Impuls verspürte, schneller zu sein. Er fragte dann später in die Runde: Warum rennt ihr eigentlich immer so durchs Leben? Noch heute denke ich oft an ihn, wenn ich im Galopp unterwegs bin – und dabei das Leben verpasse.

Eine Erfahrung prägte mich besonders: Thich Nhat Hanh legte Wert darauf, dass achtsam sein nicht bedeutet, Emotionen zu unterdrücken, zu bekämpfen oder zu verleugnen. Ob Wut, Aggression, Frustration – alles darf sein und willkommen geheißen werden, solange man es im Licht der Achtsamkeit wahrnimmt und nicht nach außen agiert. Das war ungemein entlastend, beugt der Selbsttäuschung vor und erlaubt Transformation auf natürliche Weise.

Der große Transformationskünstler

Überhaupt Transformation. Ich halte Thich Nhat Hanh für einen großen Transformationskünstler – im Kleinen wie im Großen.

Ein wiederkehrendes Thema bei Vorträgen war, wie man Kompost nutzt, um Blumen gedeihen zu lassen, also aus Leiden und schwierigen Zuständen Einsicht, Mitgefühl und innere Freiheit gewinnt. Verwandlung war bei ihm nichts, was man „macht“, sondern was durch die Stille und Hinwendung nach innen langsam geschieht.

Ein großes Anliegen war ihm die Möglichkeit, Wut im Licht der Achtsamkeit zu verwandeln und gewaltlos zu leben. Denn nicht erkannte Wut zerstört Beziehungen und den gesellschaftlichen Frieden. Wie aber mit dieser gewaltigen Kraft konstruktiv umgehen?

Der Achtsamkeitslehrer empfahl, vor der Wut nicht zurückzuweichen, sondern sie anzunehmen und mit der Energie der Achtsamkeit zu verwandeln. Das gilt auch für politisches Engagement. Wut kann Klarheit bringen, aber aus Wut zu demonstrieren, ist keine gute Motivation. Alle, die politisch aktiv sind, brauchen Achtsamkeit, um für wichtige Anliegen aus einer altruistischen Haltung heraus zu kämpfen und nicht aus Feindseligkeit und Frust.

Sogar Retreats für Vietnam-Veteranen in den USA bot er an und zeigte damit auch, wie stark innen und außen, Mensch und Gesellschaft verbunden sind.

Selbst vor der Liebe machte der Mönch nicht halt. In einem Buch schreibt er, wie er sich als junger Mönch in eine Nonne verliebte und es ihm dennoch gelang, seinen Weg fortzusetzen. Nichts Menschliches war ihm fremd und er konnte alles verwandeln.

 

„Unser Leben muss unsere Botschaft sein“

Thich Nhat Hanh dachte Transformation groß: “Wir sollten so leben, dass für unsere Kinder und Enkelkinder eine Zukunft möglich sein wird. Unser Leben muss unsere Botschaft sein.“ (aus seinem Buch „Liebesbrief an die Erde“).

Auch wenn wir uns als getrennte Individuen erleben, so ist dies eine Täuschung. Unser eigenes Schicksal und das der Erde hängen unmittelbar miteinander zusammen. Daher ist es bedeutsam, was wir im Kleinen tun und wie wir es tun.

Genau das erkannte ich auf einem Tag der Achtsamkeit 1996 in Bremen. An einem milden Herbsttag machten wir eine Gehmeditation im Park. Unter Bäumen versammmelten wir uns um Thich Nhat Hanh und jeder aß einen Apfel.

Es war ein magischer Moment – in seiner Einfachheit und Schönheit, fast so, als hätte ich nie zuvor einen Apfel zu mir genommen. Und so war es wohl auch, dass ich in diesem Moment wirklich da war, frei von Plänen, Vorhaben, Sorgen und ablenkenden Gedanken. Noch heute erinnere ich mich, wie knackig und wie säuerlich-süß der Apfel schmeckte. Da war tiefe Dankbarkeit, dass uns die Erde ernährt und so reich beschenkt. Und ein Gefühl des Verbundenseins mit der Gemeinschaft in der Energie der Achtsamkeit.

Meditation ist für die große Transformation allein nicht ausreichend. Wir müssen vom Kissen aufstehen, so wie Thich Nhat Hanh es schon während des Vietnamkrieges getan hatte. Und Einsicht und Mitgefühl ins Handeln bringen. Dafür legte er mit seinem ganzen reichen und engagierten Leben Zeugnis ab.

Mögen die zahllosen heilsamen Samen, die Thich Nhat Hanh durch sein Wirken gesät hat, Früchte tragen und Mensch und Natur Frieden und Wohlergehen bringen.

Birgit Stratmann, Alle Fotos: Plum Village

Zum Nachlesen:

2017 erschien im O.W. Barth Verlag ein Buch mit autobiographischen Texten: Thich Nhat Hanh “Mein Leben ist meine Lehre”, Zur Buchbesprechung

Eine ausführliche Vita findet sich auf der Website von Plum Village

2014 erschien das Buch von Thich Nhat Hanh. Liebeserklärung an die Erde, O.W. Barth Verlag 2014

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Liebe Birigt

ganz wunderbar und sehr persönlich. Das hat mir sehr sehr gut gefallen. Er gehört zu den ganz ganz Großen!
Liebe Grüße Guido

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