Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Vermeer: Die gemalte Achtsamkeit

Johannes Vermeer/ Creative Commons
Johannes Vermeer: Das Mädchen mit dem Perlenohrring |
Johannes Vermeer/ Creative Commons

Einladung zur achtsamen Kunstbetrachtung

Der holländische Maler Johannes Vermeer, 1632-1675, malte Bilder des Alltäglichen. Diese erschließen sich nicht beim schnellen Vorbeigehen, sondern erst, wenn man sie achtsam betrachtet. Ursula Baatz über die Entdeckung von Licht, Stille und Präsenz in der Malerei Vermeers.

Ein Milchkrug. Ein Brief. Ein Schlapphut. Eine rote Jacke. Eine Laute. Eine glänzende Perle im Ohr eines Mädchens. Die Präsenz des Alltäglichen in Farben, die aus sich heraus leuchten. Gemälde achtsamer Offenheit, so könnte man die Bilder von Johannes Vermeer (1632-1675) beschreiben.

Obwohl Vermeer nur wenige Bilder gemalt hat, zählt er zu den ganz Großen der Malerei. Zu Lebzeiten war er ein bekannter Maler, doch kam sein Stil dann aus der Mode und schließlich wurde er vergessen. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurden seine Bilder wieder entdeckt und berühmt.

Kein Wunder, dass die Ausstellung im Frühjahr 2023 im Rijksmuseum in Amsterdam sehr rasch ausverkauft war.

Von den 35 Bildern, die als echte Werke Vermeers anerkannt sind, waren 28 im Rijksmuseum zu sehen. Sie kamen aus unterschiedlichsten Museen, aus New York, Edinburgh, Tokio, Dresden, Paris, Frankfurt, Dublin, Den Haag, Berlin und Washington.

Die Leute stauten sich vor den durch Barrieren abgesicherten Gemälden. Doch am frühen Abend leerten sich die Räume plötzlich, und für etwa eine Stunde waren wir nur noch zu etwa dreißigst in den Ausstellungsräumen und konnten nun ohne Gedränge Aug in Aug mit den Gemälden atmen.

Ganz still war es jetzt in den Räumen. Eine sehr junge Frau, die mit ihrem Freund extra aus Stockholm angereist war, versank in dem Bild des Mädchens mit der Laute, mit Tränen in den Augen.

Johannis Vermeer, wie er mit vollem Namen hieß, wird oft „Maler der Stille“ genannt, weil seine Bilder weder Schlachten noch Festivitäten, sondern Momente des Alltäglichen zeigen – unscheinbare Augenblicke, in denen eine Frau einen Brief liest, Milch in eine Schüssel gießt, vor einem Tisch mit Weinglas oder Laute sitzt oder ein Musikinstrument spielt.

Vermeers Bilder vermitteln Präsenz

Man könnte Vermeers Gemälde als „gemalte Achtsamkeit“ verstehen: Nichts ist zu unwichtig, dass es der Maler nicht ins Bild aufnimmt – ein Haken an der Wand, Spiegelungen des Straßenlebens in den Butzenscheiben, die Oberfläche der feinen Stoffe, selbst die fast nicht sichtbare Drehbewegung der Milch, wie sie aus der Kanne in die Schüssel rinnt.

Die leuchtenden Farben verdanken sich den kostbaren Mineralien, die Vermeer fein zerrieben mit Leinöl und anderen Substanzen mischte. Das berühmte „Vermeer-Blau“ etwa ist zerriebener Lapislazuli aus Afghanistan, ein sehrteures Material. In vielen Bildern leuchtet es immer wieder in verschiedenen Schattierungen auf, als ein Grundton, der alles zusammenhält.

Vermeers Bilder vermitteln Präsenz – das liegt an einer sehr genauen, achtsamen Beobachtung, aber auch an einer sehr subtilen Technik. Moderne Untersuchungen zeigen, dass Vermeer meist eine graue oder ockerfarbene Grundschichte auftrug, auf die er dann die Farben setzte.

Das Besondere seiner Bilder ist das Licht, das alles durchdringt und der Körperlichkeit der Gestalten und Objekte eine besondere Wirkung verleiht. Dafür legte Vermeer dünne Lasurschichten übereinander; manchmal verwendete er unzusammenhängende Farbtupfer, um den Gegenständen ein Eigenlicht zu geben.

Drei Jahrhunderte später machten die Impressionisten diesen Pointillismus zur Methode. All dies setzt nicht nur Technik, sondern auch eine sehr genaue und vorurteilsfreie Beobachtung – heute würde man sagen: Achtsamkeit – voraus.

Johannes Vermeer: Das Milchmädchen, Creative Commons

Die Malerei als Schwester der Philosophie

In der „Ansicht von Delft“ etwa sind die Reflexionen der Gebäude und des Stadttors im Wasser des Flusses so gemalt, dass man vermeint, die kleinen Wellenbewegungen zu sehen. In seinen späten Bildern – etwa der „Briefschreiberin und Dienstmagd“ verwendet Vermeer klar umrissene Farbflächen und rhythmische Wiederholungen von Formen, um der Szene emotionale Intensität zu geben. Man weiß nicht, was der Inhalt des Briefes ist, doch scheint es so, als ob die Schreiberin in einiger Eile ein Schreiben formuliert, dass die Magd rasch überbringen soll.

Um das alles wahrzunehmen, braucht man Zeit, viel Zeit. Dem raschen Bild-Konsum erschließen sich Vermeers Bilder nur sehr ungefähr. Ein achtsames Verweilen, ein achtsames Schweifen-Lassen des Auges jedoch eröffnet immer neue Details und Inhalte. Zum Beispiel sind die Gemälde, die in einigen Innenräumen in Vermeers Bildern an der Wand hängen, so deutlich gemalt, dass sie fast ein Bild im Bild sind. Jedes Detail hat seinen Platz und seine Bedeutung. Durch die große illusionistische Kunst des Malers erscheinen die Gemälde zwar als „Abbilder“ von Augenblicksszenen, sind aber maltechnisch und perspektivisch genau konstruiert.

Das kann man anhand der winzigen Nadellöcher erkennen, die der Konstruktion der Perspektive dienten. Die war manchmal sehr kühn: etwa sieht man den Offizier, der dem lachenden Mädchen gegenübersitzt, von unten hinten als übergroße dunkle Silhouette. Dazu steht im Kontrast das Mädchen, das ihm Wein einschenkt, wodurch der Innenraum erst seine Dynamik erhält.

Die Stille zieht den Betrachter in das Bild hinein

Zur Zeit Vermeers waren Bilder nicht nur ästhetische Objekte, sondern vor allem „Denkbilder“. Die Malerei war, wie der Maler Samuel van Hogstraaten, ein Zeitgenosse Vermeers, schrieb, „eine echte Schwester der reflektierenden Philosophie“.

Die Bilder boten vielerlei Möglichkeiten zur Interpretation. Oft stehen Vermeers Frauen in einer ambivalenten Beziehung zu den Männern im Bild; doch wussten die Zeitgenossen Vermeers, Anspielungen zu lesen.

Eine Laute etwa, die auf dem Tisch liegt, konnte als Hinweis auf Harmonie gelesen werden oder aber auch als Zeichen eines leichtfertigen Lebenswandels, so Nils Büttner in seiner kleinen Einführung „Vermeer“.

Ganz deutlich wird dies im Bild der „Frau mit Waage“. Auf dem Tisch liegt Schmuck, die Frau steht vor einem Spiegel und hält eine leere Waage in der Hand. Hinter ihr hängt ein Gemälde des „Jüngsten Gerichts“.

Der Spiegel steht für Selbsterkenntnis – oder für Eitelkeit. Die Waage kann für das richtige Abwägen der Motive des Handelns stehen, aber auch für das „Gewogen werden“ am Ende des Lebens, wie dies in dem Motiv der „Seelenwaage“ – ein Bild, das aus dem alten Ägypten ins Christentum übernommen wurde – zum Ausdruck kommt.

So sehr die Bilder Vermeers Achtsamkeit im Sinne der offenen Wahrnehmung voraussetzen, so sehr sind sie – jedenfalls für Vermeers Zeitgenossen – auch Bilder, die zu einem Nachdenken über die Situationen des Lebens anregen sollen.

Doch sind die Gemälde nie moralisierend, sondern vieldeutig, beziehen sich aber auf Kontexte, die heute kaum mehr bekannt sind. Auch wenn wir die Bilder oft nur mit Hilfe von Interpretationen verstehen können, die Stille, die in Vermeers Bildern herrscht – eine Stille, die im Wesentlichen durch das Licht entsteht, zieht in die Bilder hinein.

Dieser Blick, der im Alltäglichen das Besondere, Einzigartige wahrnimmt, gehört nicht nur Malern wie Vermeer. Achtsamkeitspraxis kann ein Übungsweg dazu sein.

Auch interessant: “Gemälde können uns mit unserem Innern verbinden” – ein Interview mit Prof. Andreas de Bruin

Ursula Baatz ist Philosophin und Publizistin, langjährige Radio-Redakteurin (ORF-Ö1-Wissenschaft und Religion). Lehraufträge an den Universitäten Klagenfurt und Wien für interkulturelle Philosophie bzw. Ethik. Achtsamkeitslehrerin (MBSR, MSC, IMP). Praktiziert und lehrt Zen in christlichem Kontext (Escuela Zen „Zendo Betania“). Buchautorin, zuletzt erschienen: Achtsamkeit. Der Boom. Hintergründe, Perspektiven, Praktiken. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage 2023

preview-full-shutterstock_1156208422-fizkes_a
Shutterstock

Online-Abende: Kommen Sie mit uns ins Gespräch!

Online-Abende: Kommen Sie mit uns ins Gespräch!

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Kategorien