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Unsere Mitmenschlichkeit stärken

Vasara/ shutterstock.com
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Mit kleinen Übungen für den Alltag

Jeder Mensch ist zwar mit der Welt verbunden, und doch fühlen wir uns oft getrennt. Wir haben die Illusion, unabhängig leben zu können. Buchautorin Christa Spannbauer erklärt, wie wir das Gefühl, mit anderen verbunden zu sein, aktivieren können und gibt alltagstaugliche Inspiration.

Es war ein Vortrag des Quantenphysikers Hans-Peter Dürr (1929-2014), der vor Jahren mein Weltbild revolutionierte. „Jedes Atom ist in diesem Universum mit jedem anderen Atom verbunden“ sagte er.

Schlagartig wurde mir bewusst, wie untrennbar wir alle miteinander verbunden sind und wie radikal abhängig wir sind von der lebendigen Welt, in die wir eingebunden sind. Bis ins hohe Alter reiste Hans-Peter Dürr durch die Welt, um möglichst viele Menschen an diesem ganzheitlichen Weltbild teilhaben zu lassen. Wusste er doch, dass es die Grundlage bildet für ein friedliches und kooperatives Miteinander der Menschen.

Weshalb aber dringt diese ganzheitliche Weltsicht der modernen Naturwissenschaft immer noch so wenig in unser Alltagsbewusstsein vor? Weshalb fühlen wir uns in dieser Welt der Verbundenheit oft so grundlegend von unseren Mitmenschen getrennt?

Die Vermutung liegt nahe, dass dies mit dem vorherrschenden Weltbild zu tun hat, dessen Fundament von der Aufklärung im 18. Jahrhundert gelegt wurde und das bis heute unser gesellschaftliches Denken dominiert. Weit weniger als Kooperation und Gemeinsinn wird von diesem die Autarkie und Individualität des Menschen betont. Und seien wir ehrlich: Wir sindmächtig stolz auf unsere Unabhängigkeit. Wir glauben so gerne, dass wir unser Leben in eigenen Händen halten und selbstbestimmt und frei leben könnten.

Wir sind abhängig von Menschen und Natur

Dass wir dabei aber unsere grundlegende Abhängigkeit übersehen, darauf weist der Wirtschaftsethiker Karl-Heinz Brodbeck hin: „Wir sind verkörpert in einem Leib, der zusammengesetzt ist aus transformierten Pflanzen und Tieren, der kaum fünf Minuten ohne Luft auskommt, nicht lange ohne Wasser und der in seinem Lebensumfeld völlig abhängig ist von anderen Menschen und der Natur.“

Um diese Worte in ihrer ganzen Tragweite wirken zu lassen, empfehle ich die folgende kleine Alltagsübung:

Wenn Sie das nächste Mal eine Scheibe Brot auf Ihrem Teller liegen haben, überlegen Sie einmal, wer und was alles an deren Entstehung beteiligt war. Stellen Sie sich das Korn vor, wie es von Menschen gesät wurde, wie die Sonne es beschienen und der Regen gewässert hat, wie es von der Erde genährt wurde, wie die gereiften Ähren geerntet, von Menschen zu Brot verarbeitet, transportiert und verkauft wurde. Gut möglich, dass Sie ein Gefühl der Dankbarkeit überkommt. Dankbarkeit bereitet den Boden für Verbundenheit.

Gemeinschaft gibt Geborgenheit

Oft ist es eine ernsthafte gesundheitliche oder existenzielle Krise, die unserer Selbstüberschätzung einen Dämpfer verpasst. Dann wird uns mit einem Schlag bewusst, in welchem Ausmaß wir auf die Unterstützung anderer Menschen angewiesen sind. Plötzlich erkennen wir, dass wir alles andere als unabhängig sind. Wer sich dann eingebunden weiß in die Gemeinschaft von Menschen, wer sich fürsorglich behütet fühlt, wer verwurzelt ist in Familie, Freundschaft oder Partnerschaft, der erfährt Geborgenheit, ein Gefühl, das die Verbundenheit nährt.

Es lohnt sich, an dieser Stelle einmal innezuhalten und sich zu fragen: Wer sind die Menschen, mit denen ich mich tief verbunden fühle? Wer hält zu mir in guten und in schlechten Zeiten?

Tätiges Mitgefühl

Sich verbunden zu fühlen mit Menschen, die uns nahe stehen und die wir wertschätzen, fällt uns meist ja gar nicht so schwer. Wie aber können wir ein Gefühl der Verbundenheit mit Menschen entwickeln, die wir überhaupt nicht kennen? Und wie können wir Mitgefühl für die Not von Menschen in fernen Ländern oder mit Fremden im eigenen Land empfinden?

Die meisten Probleme in dieser Welt resultieren ja genau daraus, dass wir unterscheiden in Menschen, die uns etwas bedeuten, und in die vielen anderen, die uns gleichgültig sind und für deren Wohlergehen wir uns nicht verantwortlich fühlen. Es ist dieses verengte Denken, das uns Grenzen schließen und glauben lässt, wir könnten uns das Leid anderer Menschen durch Wegsehen vom Leib halten.

„Tätiges Mitgefühl“ nannte der Missionsarzt Albert Schweitzer das Engagement des Herzens, das sich nicht vor dem Leid anderer verschanzt, sondern sich diesem zuwendet. Hierfür braucht es die Bereitschaft, die eigene Komfortzone hin und wieder zu verlassen und Orte der Not aufzusuchen. Diese Erkenntnis setzte der Zen-Meister Bernard Glassman in seinen Straßen-Retreats um, mit denen er Menschen die Not von Obdachlosen nahebringen wollte.

Er ging mit den Teilnehmern für eine Woche auf die winterlichen Straßen von New York, ohne Geld und nur mit dem, was sie am Leibe trugen, um das Schicksal der Obdachlosigkeit zu teilen. Für alle, die an solch einem Retreat teilnahmen, war es eine eindrückliche Lektion. Die eigene Erfahrung, gänzlich ungeschützt und zum Überleben auf die Hilfe anderer Menschen angewiesen zu sein, ließ sie die Verbundenheit mit den Ausgegrenzten der Gesellschaft unmittelbar erfahren.

Wollen Sie eine Ahnung davon erhalten, wie sich das Leben auf der Straße anfühlt? Dann laufen Sie das nächste Mal nicht an dem Obdachlosen am Straßenrand vorbei. Setzen Sie sich zu einem Gespräch neben ihn auf den Gehsteig. Sie werden nicht nur sein freudiges Erstaunen ernten und so einiges über sein Leben erfahren. Sie werden nun die Welt aus seiner Perspektive wahrnehmen.

Gut möglich, dass Sie die verstörende Erfahrung machen, für Ihre Umwelt plötzlich Irritation auszulösen. Sie werden den Ärger spüren, den Sie bei manchen Passanten auslösen und Blicke der Verachtung ernten. Wenn Sie viel Glück haben, werden Sie vielleicht auch die Wohltat mitfühlender Blicke, Gesten und Worte erleben dürfen.

Die Herzensqualität Mitfreude

Nichts verbindet uns Menschen bekanntlich so tief wie gemeinsam erfahrenes Leid und gemeinsam erlebte Freude. Die Mitfreude öffnet unser Herz für unsere Mitmenschen in besonderer Weise. Wir erfreuen uns an der Freude der anderen. Und wir teilen unsere Freude mit anderen. So entsteht der Dominoeffekt freudvoller Verbundenheit.

Für mich ist einer der verlässlichsten Orte für die Aktivierung von Mitfreude eine Bank auf dem Kinderspielplatz. Das Jauchzen der Kleinen, wenn sie die Rutsche hinunterschlittern, ihr Lachen, wenn sie mit der Schaukel in die Lüfte fliegen, ihre Entdeckerfreude, wenn sie gemeinsam mit anderen Kindern im Sand buddeln. Ihre Freude und ihr Lachen sind ansteckend. Probieren Sie es selbst einmal aus und erfahren Sie die Verbundenheit der Mitfreude.

Die Freude ist die kleine Schwester der Hoffnung, sagte die Psychoanalytikerin Verena Kast auf ethik-heute. Hoffnung gilt es heute mehr denn je zu wahren und zu stärken. Hoffnung auf eine Welt, in der wir erkennen, wie tief und untrennbar wir alle miteinander verbunden sind.

Christa Spannbauer

Gemeinsam mit dem Hirnforscher Gerald Hüther ist Christa Spannbauer Herausgeberin des im August 2018 erschienenen Buches „Verbundenheit. Warum wir ein neues Weltbild brauchen“. In diesem ist u.a. der wegweisende Text von Hans-Peter Dürr „Teilhaben an einer unteilbaren Welt“ enthalten.

www.christa-spannbauer.de

 

 

 

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