Online Magazin für Ethik und Achtsamkeit

Suche
Close this search box.

„Bewusstsein ist keine rein individuelle Sache“

Foto: privat
Foto: privat

Interview mit der Philosophin Natalie Knapp

Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Für die Philosophin Natalie Knapp hat diese Frage viel mit Weisheit zu tun. Sie spricht im Interview über verschiedene Vorstellungen von Bewusstsein, die Freude am eigenständigen Denken und welche Vorteile es hat, Meditation und Denken zu verbinden.

Das Interview führte Birgit Stratmann.

 

Ihnen liegt die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins am Herzen. Wie können wir unser Bewusstsein entwickeln?

Knapp: Das ist eine große Frage, die man nicht in drei Sätzen beantworten kann, weil wir den Begriff Bewusstsein für so viele unterschiedliche Phänomene verwenden. Für Ärzte heißt „bei Bewusstsein“ einfach nur wach oder ansprechbar zu sein. In manchen Religionen versteht man darunter eine immaterielle Wirklichkeit.

Philosophen verwenden den Begriff unter anderem für die Fähigkeit, sich selbst in seinen Handlungen zu beobachten und zu reflektieren. Etwas nicht nur zu erleben, sondern zu wissen, dass man das erlebt und sich dazu ins Verhältnis setzen zu können. Das Bewusstsein wäre dann eine Art übergeordneter Beobachter, der bewirkt, dass wir unseren Wahrnehmungen und Erlebnissen nicht einfach ausgeliefert sind. Es wäre eine zusätzliche Instanz, die uns dabei hilft zu sortieren, Entscheidungen zu treffen, uns selbst und die Welt ganz neu zu betrachten und vieles mehr. Diese Fähigkeiten kann man durch Reflexion und die Schulung der eigenen Wahrnehmung weiterentwickeln.

Wenn ich von der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins spreche, meine ich aber noch etwas Anderes. Normalerweise gehen wir davon aus, dass wir durch unser Bewusstsein die Fähigkeit besitzen, neutrale Beobachtungen zu machen. Aber das ist nicht der Fall. Unser innerer Beobachter trägt immer die Brille des Zeitgeistes.

Nur ein Beispiel: Neulich gab es eine Studie, in der untersucht wurde, wie Studierende ihre Lehrkräfte bewerten. Dabei stellte sich heraus, dass weibliche Lehrkräfte konsequent erheblich schlechter beurteilt wurden als männliche. Und zwar sowohl von Männern als auch von Frauen. Nicht weil sie schlechter unterrichtet haben, sondern weil wir Frauen kollektiv immer noch sehr viel weniger zutrauen als Männern.

Die Studierenden waren sich natürlich nicht darüber bewusst, dass ihr Urteil vom Zeitgeist eingetrübt war. Aber wir haben einfach keinen neutralen Beobachtungsposten. Die Brille des Zeitgeistes sorgt dafür, dass wir verzerrt urteilen. In den vergangenen 50 Jahren hat das beispielsweise dazu geführt, dass wir die Zerstörung der Natur nicht aufhalten konnten, obwohl alle Fakten rechtzeitig auf dem Tisch lagen und das nötige Wissen vorhanden war.

Bewusstseinsentwicklung bedeutet für mich daher auch, die Brille des Zeitgeistes weiterzuentwickeln. Und dafür braucht man Gruppen von Menschen, die gemeinsam reflektieren und Schritt für Schritt ihren Blick auf die Welt verändern, denn Bewusstsein ist eben keine rein individuelle Sache.

Begreifen, was es heißt, Mensch zu sein

Welchen Beitrag kann die Philosophie dazu leisten?

Knapp: Die Philosophie hat über die Jahrhunderte Netzwerke von Ideen entwickelt, durch die wir die Welt immer wieder neu und anders betrachten können. Philosophinnen und Philosophen halten keine Wahrheit und keine Erkenntnis für selbstverständlich. Das bewahrt uns davor, alles zu glauben, was wir denken. Es ermöglicht uns, die Welt durch verschiedene Brillen zu betrachten und schließlich auch zu erkennen dass unsere Erkenntnisse von der Sichtstärke dieser Brillen abhängen.

Welche Rolle spielt das Denken in unserer Entwicklung? Wie und wo lernen wir eigentlich zu denken?

Knapp: Unter „denken“ verstehen wir u.a. unsere Fähigkeit, Wahrnehmungen zu sortieren und Ereignisse in sinnvolle Zusammenhänge zu bringen. Ohne zu denken, wären wir nicht in der Lage, die Welt als ein geordnetes und zusammenhängendes System zu erfassen.

Nach welchen Kriterien wir ordnen und Sinnzusammenhänge herstellen, hängt sowohl von der Epoche ab, in der wir leben, als auch vom Lebensalter. Jeder Mensch durchläuft in der Entwicklung seines Denkens sämtliche Entwicklungsstufen, die die Menschheit als Ganzes im Laufe ihrer Evolution durchlaufen hat.

Wie die meisten Fähigkeiten erlernen wir auch das Denken von anderen Menschen, die es vor uns erlernt haben und übernehmen deren Strategien. Welche biologischen Impulse diese Entwicklung vorantreiben, ist allerdings noch nicht in allen Einzelheiten erforscht.

Sie unterrichten im Weisheitstraining des Netzwerks Ethik heute, z.B. zusammen mit einem Meditationslehrer. Wie geht das zusammen: Philosophie und Meditation?

Knapp: In der Meditation übt man sich in der Fähigkeit, sich selbst beim Denken zu beobachten und automatisierte Denkprozesse zu unterbrechen. Dafür gibt es erprobte Techniken. Sie sind enorm hilfreich, um sich beispielsweise vom Zeitgeist distanzieren zu können und einen weiteren und tieferen Blick zu bekommen.

Im Unterschied zu manchen spirituellen Lehrerinnen und Lehrern gehe ich allerdings nicht davon aus, dass uns die Meditation von der Notwendigkeit des Denkens insgesamt befreit. Denn wir leben nicht in abgeschiedenen Klöstern mit ritualisierten Tagesabläufen, sondern in einer hochkomplexen Welt. Wir müssen politische Entscheidungen treffen, eine ethische Haltung entwickeln, praktische Lösungen erarbeiten und vieles mehr. Es wäre unverantwortlich, dafür nicht alle Fähigkeiten auszubilden, die uns als Menschen mitgegeben sind.

Sie unterrichten im Modul “Achtsamkeit und Selbsterkenntnis”. Worum geht es in Ihrem Wochenend-Workshop, was möchten Sie den Teilnehmern vermitteln?

Knapp: Es geht auf jeden Fall nicht darum, historisches Wissen anzuhäufen. Vor allem möchte ich die Freude am eigenständigen Denken wecken, weil das so einen belebenden Effekt hat. Deshalb erforschen wir zunächst, was wir eigentlich genau tun, wenn wir denken. Wir kümmern uns um die Frage, wer wir eigentlich sind und lernen Techniken des Denkens kennen, die sehr viel mehr Spaß machen als das, was wir in der Schule gelernt haben.

Was kann so ein Weisheitstraining in den Menschen bewirken?

Knapp: Zu begreifen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Und mit sehr viel mehr Freude und Selbstbewusstsein die Verantwortung für das eigene Leben und für die Welt zu ergreifen, in der dieses Leben stattfindet.

Lesen Sie auch das zweiteilige Interview mit Natalie Knapp:

Teil 1: “Das Leben reicht uns jeden Moment die Hand”

Teil 2: “Wir brauchen einen Bewusstseinswandel”

Dr. Natalie Knapp ist Philosophin und Autorin. Zuletzt erschien ihr Buch „Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind“, Reinbeck 2015. Sie unterrichtet auch im 1. Modul des Weisheitstrainings “Achtsamkeit und Selbsterkenntnis”, das am 24./25. Februar startet.

 

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
0 Kommentare
Inline Feedbacks
Alle Kommentare

Aktuelle Termine

Online Abende

rund um spannende ethische Themen
mit Referenten aus verschiedenen Disziplinen
Ca. 1 Mal pro Monat, kostenlos

Auch interessant

Foto: Joel Muniz I Unsplash

Wie viel Verschiedenheit verträgt Freundschaft?

Kolumne Beziehungsdynamiken Autorin und Familientherapeutin Mona Kino beantwortet in ihrer Kolumne “Beziehungsdynamiken verstehen” eine Frage zum Thema Freundschaften: „Muss man bestimmte Werte teilen, um Freunde zu sein? Oder wie geht man um, wenn man in wichtigen Punkten verschiedener Meinung ist?“
madochab/ Photocase

„Wir brauchen ein gesundes Schamgefühl“

Interview über ein schwieriges Gefühl Scham ist eine Grundemotion des Menschen und für die persönliche Entwicklung zentral, sagt die Philosophin Heidemarie Bennent-Vahle. Gleichzeitig wird Scham instrumentalisiert, im Politischen und Privaten. Wichtig sei, sich Schamgefühlen zu stellen. Eine wache Auseinandersetzung ermögliche mehr innere Freiheit.

Newsletter abonnieren

Sie erhalten Anregungen für die innere Entwicklung und gesellschaftliches Engagement. Wir informieren Sie auch über Veranstaltungen des Netzwerkes Ethik heute. Ca. 1 bis 2 Mal pro Monat.

Neueste Artikel

Getty Images/ Unsplash

Selbstregulation als Kompetenz stärken

Für eine neue Leitperspektive in der Bildung Selbstregulation soll ein neuer Schwerpunkt in der Bildung sein, so sehen es Wissenschaftler der Leopoldina. In ihrem 2024 veröffentlichten Papier raten sie dazu, entsprechende Kompetenzen bei Kindern und Jugendlichen zu stärken. Selbstregulation unterstütze das körperliche und geistige Wohlbefinden. Das Ziel ist, Verantwortung für die eigenen inneren Zustände zu übernehmen.
Dominik Lange/ Unsplash

Muss ich tun, was ein Sterbender will?

Ethische Alltagsfragen In der Rubrik “Ethische Alltagsfragen” greift der Philosoph Jay Garfield eine Frage dazu auf, wie man mit den letzten Wünschen von Sterbenden umgeht: “Kann man sich über Wünsche von Sterbenden hinwegsetzen?”
Cover Suzman, Sie nannten es Arbeit

Woher kommt unsere Arbeitswut?

Eine anthropologische Perspektive Der Anthropologe James Suzman untersucht in seinem Buch die Geschichte der Arbeit – von den Anfängen bis heute. Mit erstaunlichen Einsichten: Erst seit rund 10.000 Jahren steht Arbeit im Zentrum menschlichen Lebens. Im größten Teil der Menschheitsgeschichte reichten ein paar Wochenstunden, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Foto: Emma Dau, Unsplash

Darf man am Arbeitsplatz Gefühle zeigen?

Interview über Toxic Positivity am Arbeitsplatz Immer gut gelaunt, immer optimistisch? Toxic Positivity am Arbeitsplatz heißt der Trend. Danach muss man negative Gefühle verbergen – eine Folge des Drangs zur Selbstoptimierung, sagt Prof. Astrid Schütz. Sie rät, Gefühlen Raum zu geben und Optimismus gut zu dosieren.
Foto: privat

Kategorien