615 – so wenige Deutsche waren im letzten Jahr bereit, im Falle ihres Ablebens anderen ihre Organe zu spenden. Die Konsequenzen sind gravierend. Rund 10.000 Menschen warten heute in Deutschland auf ein Organ. Viele sind vom Tod bedroht oder haben eine sehr eingeschränkte Lebensqualität. Sie sind auf Geräte oder Medikamente angewiesen, die einen normalen Alltag unmöglich machen.
Es gibt berührende Geschichten von jungen und alten Menschen, die verzweifelt auf ein Organ warten. Dabei ist es die erste große Hürde, überhaupt auf eine Warteliste zu kommen. Vorher wird geprüft, wie notwendig, aber auch wie erfolgversprechend eine Transplantation wäre. Viele erleben hier ihre erste große Ernüchterung: Patienten, denen es sehr schlecht geht, haben nicht automatisch Chancen auf eine Organspende.
Viele offene Fragen
Das Thema ist behaftet mit Ängsten, Zweifeln und Unbehagen. Einerseits: Wer würde nicht einem Menschen, dessen Leben in Gefahr ist, helfen wollen? Damit könnte auch dem eigenen Tod die Sinnlosigkeit genommen werden. Ich muss sterben, doch dafür darf ein anderer weiter leben. Mit meinem Tod kann ich Leben retten und mich von dem Gedanken tragen lassen, dass etwas von mir auf diese Weise weiter existiert.
Auf der anderen Seite bauen sich eine Menge Fragen auf. Zunächst einmal die, ab wann man eigentlich tot ist. Nach deutschem Gesetz ist nicht mehr das Aussetzen des Herzschlags, sondern der Aktivität des Gehirns ausschlaggebend. Juristisches und moralisches Fundament für die Zulässigkeit einer Organspende ist heute der Hirntod.
Doch es gibt Mediziner wie den Kardiologen Pim van Lommel oder den Neurochirurgen Eben Alexander, die davon ausgehen, dass das Bewusstsein nicht an das Gehirn gebunden ist. Demnach könnte etwas von uns weiter existieren, auch wenn sämtliche Körperfunktionen erloschen sind.
Zu welchem Zeitpunkt also kann man ein Organ entnehmen, ohne dass der Betroffene davon etwas merkt? Wie sollen die Angehörigen entscheiden, die gefragt werden, wenn kein Organspendeausweis vorliegt?
Mit medizinischer Technik ist es heute möglich, die lebenswichtigen organischen Funktionen beinahe beliebig lange fortzusetzen. An die Maschinen angeschlossen hebt und senkt sich die Brust, der Körper ist warm, die Haut durchblutet. Er verdaut Nahrung, zeigt Reflexe und reagiert auf Schmerzreize.
Selbst Kinder kann ein Körper in diesem Zustand zur Welt bringen. Wer hätte nicht die Hoffnung, dass der Verstorbene gar nicht wirklich tot ist und wieder zum Leben erwachen kann? Wer hätte nicht den Gedanken, dass er mit einer Zustimmung zur Organspende verantwortlich für den Tod des geliebten Menschen ist?
Die wenigsten Menschen wissen, was in einem sterbenden Körper eigentlich geschieht. Unsere Gesellschaft hat das Thema Tod ausgegliedert und Spezialeinrichtungen überlassen. Wir wissen nicht, was passiert, wenn man einen Menschen nicht in Ruhe gehen lässt, sondern in den Sterbeprozess eingreift. Werden die Ärzte tatsächlich alles Menschenmögliche tun, mich am Leben zu erhalten, wenn auf der anderen Seite schon jemand ungeduldig darauf wartet, dass ich endlich abtrete?
Wie kommen gläubige Menschen damit zurecht, unvollständig vor ihren Schöpfer zu treten? Im Judentum zum Beispiel muss ein Toter unversehrt begraben werden, um am Ende aller Tage auferstehen zu können.
Die Entscheidung ist in keinem Fall leicht zu treffen und hängt individuell von jedem einzelnen ab. Die größte Herausforderung ist vielleicht, dass sie jeden Betroffenen mit der Frage konfrontiert, was eigentlich Leben für ihn ist. Wann beginnt es? Mit der Befruchtung? Mit der Einnistung des Embryos in die Gebärmutter? Ab welcher Schwangerschaftswoche? Mit der Geburt? Wird das Leben nicht immer wieder durch kleine Tode und kleine Geburten unterbrochen?
Die Bürger müssen entscheiden
Als einziges europäisches Land gilt in Deutschland die sogenannte Entscheidungslösung. Sie bedeutet, dass alle Versicherten durch ihre Krankenkassen und Ärzte regelmäßig dazu aufgerufen werden, ihre Absicht zu spenden in einem Organspendeausweis zu dokumentieren.
Ein entsprechendes Gesetz wurde 2012 mit der Zustimmung aller Parteien verabschiedet. Wenn kein Organspendeausweis vorliegt, haben die Angehörigen zu entscheiden. In 60 Prozent aller Fälle stimmen sie zu.
Andere Länder haben andere Regelungen. Dänemark, Großbritannien und die Schweiz zum Beispiel haben sich auf die Zustimmungslösung geeinigt, nach der die Betroffenen, ohne jemals dazu aufgerufen worden zu sein, ausdrücklich einer Organentnahme zustimmen müssen.
In Ländern wie Frankreich, Italien, Österreich und seit Februar 2018 auch in Holland gilt die Widerspruchslösung. Das heißt, die Organe der Verstorbenen werden in jedem Fall entnommen und weitergegeben, es sein denn, der Betroffene hat dem vorher in schriftlicher Form widersprochen.
Das Problem ist, dass den Ländern mit Entscheidungs- und Zustimmungslösung die Spender ausgehen. In der Schweiz wurde daher von der Junior Chamber International, die ihren Hauptsitz in den USA hat, eine Volksinitiative ins Leben gerufen, die die Bereitschaft der Bürger zum Spenden erhöhen soll.
Transplantiert werden vor allem Herz, Leber, Lunge, Niere, Bauchspeicheldrüse und Dünndarm sowie Gewebestücke. Organe wie Nieren, Teile der Leber und in seltenen Fällen auch der Lunge, des Dünndarms oder der Bauchspeicheldrüse können auch einem lebendigen Organismus entnommen werden, wenn dies medizinisch vertretbar ist. In allen anderen Fällen wird vom Toten entnommen.
Die im Falle einer Spende erfolgenden Schritte sind, wie die Deutsche Stiftung Organtransplantation erklärt, perfekt miteinander koordiniert. Noch vor der medizinischen Untersuchung des Verstorbenen wird die Entscheidung an die Stiftung weitergegeben. Nach der Übertragung der Daten an Eurotransplant, eine Stiftung, die in acht europäischen Ländern verantwortlich für die Zuteilung von Spendeorganen ist, wird das Organ entnommen, zum Empfänger transportiert und transplantiert.
In den nachfolgenden Wochen und Monaten wird sich herausstellen, ob der Körper das fremde Organ annimmt oder nicht. Doch obschon die Dinge klar geregelt scheinen, widersetzen sich
viele Menschen dem Gedanken, sich nach ihrem Tod ausnehmen zu lassen und ihre Organe an andere weiterzugeben.
Das mag auch an dem 2012 publik gewordenen Transplantationsskandal liegen, bei dem in mehreren Kliniken Wartelisten manipuliert worden sind. In einem Krankenhaus in Göttingen etwa wurden Leberwerte vorsätzlich schlechter dargestellt, als sie tatsächlich waren, um die Chancen für eine Transplantation zu erhöhen. 2.000 Euro pro Operation gingen zusätzlich in die Tasche des behandelnden Arztes. Schmiergelder seitens der Patienten waren damit nicht nötig.
Handel mit Organen
Aus China weiß man, dass es trotz entsprechender Gesetze einen emsigen Handel mit den Organen Hingerichteter gibt. Mehrfach bestätigte sich der Verdacht, dass Zehntausende von Anhängern des Falun Gong, einer auf dem Qi Gong basierenden spirituellen Bewegung, die in China verfolgt wird, für die Organentnahme ermordet worden sind.
Der Dokumentarfilm Human Harvest von Leon Lee ist 2015 für die Enthüllung der Hintergründe des lukrativen Organhandels mit dem Peabody Award ausgezeichnet worden. Trotz massiven internationalen Protests, wiederholter Aufklärungsaktionen und der nachdrücklichen Aufforderung, nicht für Organtransplantationen nach China zu reisen, geht das Morden weiter. Denn der Handel lohnt sich für beide Seiten. Laut Informationsportal Transplantation.de gibt es zum Beispiel eine Leber für etwa 100.000 Dollar nach höchstens 30 Tagen Wartezeit.
Die Techniken entwickeln sich rasant weiter, Beispiel Kryonik. Sie stellt Menschen vor die Entscheidung, ob sie den Körper nach ihrem Ableben einfrieren lassen, um ihn dann wieder aufwecken zu lassen, wenn das Rezept für´s ewige Leben gefunden worden ist und alle lebenswichtigen Organe künstlich hergestellt werden können.
Glaubt man den Wissenschaftlern, scheint das nicht mehr so lange hin zu sein. Es gibt Vertreter der transhumanistischen Bewegung wie den Arzt Laurent Alexandre, der behauptet, dass die Menschen, die demnächst 1000 Jahre alt werden, heute schon geboren sind.
Einem italienischen Chirurgen ist bisher der Versuch, einen menschlichen Kopf zu transplantieren, von den Behörden untersagt worden. Der nächste Termin soll im Frühjahr 2018 sein. Wenn wir uns über die Organspende Gedanken machen, sollten wir uns vor allem mit der Frage beschäftigen, was eigentlich den Menschen ausmacht und wer in diesem Moment in unserem Körper wohnt.
Kerstin Chavent
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Kerstin Chavent ist Lehrerin für Fremdsprachen und Kommunikation und Buchautorin. Sie stammt aus Hamburg und lebt und arbeitet in Südfrankreich. Sie schreibt in Deutsch und Französisch und hat Bücher gesprieben. “Krankheit heilt: vom kreativen Denken und dem Dialog mit sich selbst”/ “La maladie guérit, de la pensée créatrice à la communication avec soi, Traverser le miroir: de la peur du cancer à la confiance en la vie / Das Licht fließt dahin, wo es dunkel ist, Was wachsen will, muss Schalen abwerfen.